Jeder hat ein Recht auf Schlaf
„Ach, Frau Doktor! Letzte Nacht habe ich wieder kein Auge zugetan ...“ Ich seufze, innerlich laut, nach außen hin hoffentlich unhörbar.
Die Dame, die mir in der Sprechstunde gegenübersitzt, ist schon in fortgeschrittenem Alter und hat trotz einiger gravierender Vorerkrankungen gerade eine Sepsis gut überstanden. Vor zwei Tagen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Die Aufnahme in das Krankenhaus und die Kommunikation mit der Stationsärztin haben gut geklappt, von meiner Seite aus verlief alles sehr zufriedenstellend.
Nicht so aus Sicht der alten Dame. In etwas anklagendem Ton berichtet sie mir ausführlich über alles, was nicht perfekt war: vom fehlenden Einzelzimmer mit Chefarztbehandlung, wo doch ihre Zusatzversicherung das übernehmen würde, bis zum irgendwo im Krankenhaus verloren gegangenen ersten Coronaabstrich (worauf die dortigen Kollegen sofort einen zweiten gemacht haben). „Ich hatte ja so ein Pech“, meint meine Patientin.
Dass sie soeben eine lebensbedrohliche Krankheit, die den Einsatz von drei Antibiotika nötig machte, überraschend gut überstanden hat, dafür könnte sie dem Krankenhauspersonal und ihrem Schicksal etwas dankbarer sein, finde ich. Das sieht sie aber anders.
Voll des Lobes ist die Patientin dagegen über die Versorgung mit Schlafmitteln im Krankenhaus: „Ich habe mir jeden Abend etwas geben lassen.“ Natürlich. Ihre Schlafstörungen sind mir wohlbekannt. Sie wurden vor mehr als einem Jahrzehnt in einer Phase heftiger Refluxbeschwerden chronisch. Den Reflux und ihre Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben wir in den Griff bekommen, ihre Schlafstörungen leider nicht. Das zunehmende Alter und die sympathikotone Reaktionslage der Patientin tragen ihren Teil dazu bei.
Mit Geduld, Psychoedukation und Veränderung der Medikamenteneinnahmezeiten haben wir es geschafft, den Gebrauch von Hypnotika im Rahmen zu halten und eine Abhängigkeit zu vermeiden. Die Patientin kann Haus und Garten versorgen und wochentags ihren halbwüchsigen Enkel betreuen und bekochen. Für ihr Alter eine beachtliche Leistung! Entweder mutet sich die Patientin damit zu viel zu oder ich kann davon ausgehen, dass ein Teil ihrer Schlafstörungen nur subjektiv ist, sie also mehr schläft als sie wahrnimmt. Da sie keinen Partner hat, kann ihr auch niemand erzählen, wie selig sie tatsächlich schlummert, während sie selbst das Gefühl hat, kein Auge zuzumachen.
Meinen Vorschlag, eine Polygraphie durchführen zu lassen, hat sie bisher immer abgelehnt. Dafür habe sie keine Zeit bei all ihren Aufgaben! Mein Eindruck ist eher, dass sie ein bisschen Angst vor den vielen Kabeln hat, die sie selbstständig anlegen müsste und die während der Nacht an ihr hängen würden.
Ich unterdrücke einen zweiten Seufzer und erkläre ihr, dass sich ihr Körper nun vermutlich an die medikamentöse Hilfe gewöhnt hat und sich erstmal wieder umstellen muss. Ich führe weiter aus, dass sie ja vieles durchgemacht hat, was ihre Seele nun erst mal „verdauen“ muss. Und wenn man sich bewusst macht, welche Folgen bei einer Sepsis möglich sind, dann kann einem das schon den Schlaf rauben.
Schlaf ist ein wichtiges Lebenselixier – für unsere Patienten, aber auch für uns selber. Jede und jeder, die oder der schon mal selbst unter Schlafstörungen gelitten hat oder früher ganze Wochenenden im Krankenhaus oder in der Praxis Dienst geschoben hat, kann ein Lied davon singen, wie schwer es mitunter ist, sich durch den Tag zu quälen. Dazu immer die latente Sorge, etwas müdigkeitsbedingt zu übersehen oder Fehler zu machen. Und darüber hinaus das Wissen, dass Schlafstörungen auf Dauer krank machen. Wie weit es in dieser Hinsicht bei uns selber ist, fällt uns oft schwer zu erkennen.
„Mit der Approbation haben wir die Fähigkeit erworben, zu jeder Zeit voll leistungsfähig und gesund zu sein“, hat es eine Kollegin einmal treffend formuliert. Das jedenfalls wird von uns erwartet. Deshalb müssen wir umso mehr auf uns schauen und unsere Arbeitsbedingungen verbessern, wo es chronobiologisch nötig und machbar ist. Auch wir haben ein Recht auf Schlaf.