Am Wochenende wird der Tiger zum Chirurgen
Es ist Samstag. Ich sitze auf einer Decke in der angenehm warmen Sonne und erfülle meine großmütterlichen Babysitter-Pflichten. Während seine Eltern den Tag genießen und auf einer Hochzeit von Freunden hoffentlich unbeschwert feiern können, betreue ich meinen kleinen Enkel. Er spielt in der Sandkiste – ich schaue ihm dabei zu.
Meinen Bewusstseinszustand könnte man als „frei schwebende Aufmerksamkeit“ bezeichnen. Ich bin nicht hellwach, aber ich döse auch nicht, sondern bin jederzeit bereit aufzuspringen und zielgerichtet zu handeln. Also in etwa ein Zustand, wie wir ihn beruflich aus der Überwachung problemloser Narkosen oder auch aus manchem psychotherapeutischen Verfahren kennen.
Mein Enkel hat zu seinem letzten Geburtstag, an dem er zwei Jahre alt wurde, einen Notarztwagen geschenkt bekommen, der nun nahezu ununterbrochen im Einsatz ist. Mit funktionierender Sirene, selbstverständlich. Und natürlich ist auch diese nahezu ununterbrochen im Einsatz. Die Lautstärke ist erträglich.
Und als ich so überlege, ob mir dennoch bald die Nachbarn wegen sonntäglicher Lärmbelästigung auf die Pelle rücken und ob ich aus diesem Notarztwagen bei nächster Gelegenheit die Batterien entfernen könnte, werde ich etwas wacher.
Der Notarztwagen kurvt weiterhin unermüdlich durch die Sandkiste, lädt Duplo-Männchen ein und nach einer holprigen Fahrt über das Hofpflaster am Hinterrad meines Fahrrads wieder aus. Dort befindet sich offensichtlich das Krankenhaus.
Dann bin ich aber überrascht, dass die Duplo-Männchen wieder eingeladen werden und in den Schatten des Immergrüns gefahren werden. Dort befindet sich in der blühenden Phantasie meines Enkels offensichtlich meine Praxis.
Die Duplo-Männchen werden ausgeladen und eine Playmobilfigur mit schicker Pagenfrisur macht sich an ihnen zu schaffen. Neugierig nähere ich mich und frage nach, was da gerade passiert.
Die fleißige Playmobilfigur ist die Oma, wird mir erklärt, und die verbindet die Duplo-Figuren, damit sie wieder gesund werden! Da das so viel Arbeit ist, bekommt sie Assistenz von einem Tiger (vermutlich für den chirurgischen Part?). Dass sich unter den Patienten auch eine Kuh und ein Schaf befinden, übersehe ich großzügig. Wir sind schließlich auf dem Land. Da darf man das nicht so genau nehmen.
Ich bin richtig gerührt, welche Bedeutung meine Tätigkeit in den Augen meines kleinen Enkels hat. Kürzlich hatte ich ihm nach einer kleinen Verletzung einen Verband gemacht. Das hat ihn anscheinend nachhaltig beeindruckt. Selbstverständlich hat die Oma in diesem speziellen Fall auch allerhand magische Heilweisen wie Pusten und „Heile, heile Segen“-Singen eingebaut! Und nun spielt er das Erlebte nach.
Natürlich ist das ein besonderer Fall mit einer besonderen Ärztin-Patient-Beziehung. Aber Mitgefühl, Trost und vielleicht ein bisschen magische Heilmethoden sind sicher bei jedem Patienten hilfreich. Und beeindrucken ihn oder sie möglicherweise auch. „Zaubermedizin“ nannte das einer meiner früheren Chefs – mit deutlich verächtlichem Unterton. Ich persönlich glaube, wir sollten im Praxisalltag viel öfter „zaubern“.