Der Arzt als Anxiolytikum
Im Frühjahr, wenn die Knospen sprießen und die Grippesaison vorbei ist, haben die Menschen Zeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Deshalb kommen sie fleißig zu mir, um endlich mal das abklären zu lassen, was sie schon so lange bedrückt. Nein, der Deutsche geht nicht raus in die jubilierende Natur – er geht zum Arzt!
Denn die tausenden Pseudoärzte im Internet schlafen auch nicht, sondern verkünden Unheil. Um dem vorzubeugen, soll der Hausarzt nun aber mal gefälligst alles bestimmen im Blut, aber wirklich ALLES. Denn die Werte sind es, die über alles Auskunft geben, die Weeerte! Nicht, dass uns trügerisches Wohlbefinden einlullt. Die Welt steckt voller Viren, Bakterien und sonstiger pathogener Faktoren!
So nehmen wir in unserer Praxis also tagtäglich bei mehreren Leuten Blut ab, fast ohne jeden Verdacht auf eine Erkrankung. Mehr, um sie zu beruhigen. Denn wehe, man folgt einmal nicht diesen Wünschen und ein anderer Kollege findet dann doch einen erhöhten Wert (egal welchen, egal wie hoch). Dann ist der Ruf ruiniert, es kommen die Vorwürfe oder vielleicht sogar ein anwaltliches Schreiben.
Sind die Weeerte dann endlich bestimmt, sitzt der Delinquent vor mir und hadert: „Mensch, da muss doch was sein! Schließlich hat es doch neulich gezwackt im Rücken oder im Brustkorb. Und jetzt das! Normale Werte! Oder irrt sich nicht doch das Labor? Haben wir zu wenig bestimmt?“ Es ist nicht schön, ein unglücklicher Gesunder zu sein. So hat es bei so manch anderem auch angefangen. Nie war was zu sehen – und dann? Tot!
Spätestens jetzt wird der Hausarzt zum Anxiolytikum. Man diskutiert über Normalwerte, redet dem Nosophobiker eine Diagnose nach der anderen aus und weiß doch, dass er im nächsten Monat wieder hier sitzt. Und es werden immer mehr. Mich kostet das alles unglaublich Kraft. So hatte ich mir mein Arztsein nicht vorgestellt. Manchmal flüchte ich mich für einen Espresso in mein Kabuff, auch Aufenthaltsraum genannt, und frage mich: „Vogel, warum hast Du nichts richtiges gelernt? Warum ausgerechnet Hausarzt?“
Wie anders hören sich solche Arzt-Patienten-Gespräche bei den fachärztlichen Kollegen an. Zum Beispiel beim Augenarzt: „Schulze, lesen Sie mal die Zahlen vor!“ „Welche Zahlen?“„Na die Zahlen dort auf der Tafel!“ „Welche Tafel?“ „Na die Tafel dort an der Wand!“ „Welche Wand?“ „Mensch Schulze, Sie brauchen keine neue Brille sondern einen Blindenhund!“ „He, was soll ich denn mit einem blinden Hund?“
Manche Fachkollegen schweigen auch einfach. So erzählte mir eine Patientin, dass sie ihre Orthopädin gebeten hatte, eine Frage stellen zu dürfen. Die Antwort war ein striktes NEIN! Menschlich ziemlich fragwürdig, doch es war Ruhe im Karton. Die Kollegin schonte so offensichtlich ihre Nerven.
Eine andere Patientin fragte, ob sich der Orthopäde heute nach dem Knie auch noch die schmerzende Schulter anschauen würde. Wieder ein Nein! Das stünde nicht auf dem Überweisungsschein. Dafür sollte sie einen neuen Termin machen (etwa in drei Monaten?). Und Schmerzen haben schließlich alle, die zum Orthopäden kommen. Für Ganzheitliches ist nun mal der Allgemeinmediziner zuständig. Und für das gelegentliche Entkräften von gesundheitlichen Ängsten auch. Dieses berufliche Selbstverständnis habe ich auf jeden Fall.
Nur mein Namensgedächtnis lässt mich manchmal im Stich. Insbesondere außerhalb der vier Praxiswände, auf Hausbesuchstour oder beim Einkaufen. Da stürzt dann manchmal jemand auf mich zu und ruft begeistert: „Herr Doktor, gut, dass ich Sie treffe. Ich war doch vor zwei Wochen bei Ihnen in der Praxis zum Blutabnehmen. Und, wie waren denn meine Weeerte?“ Was soll ich dazu sagen? Ich weiß ja nicht mal, wer das ist. So murmle ich nur: „Indifferent ...“ Soll er doch selber sehen, was er damit anfängt.