Digitaler Zwilling für Darmerkrankungen Projekt bündelt Patienteninformationen für Mediziner
In der Industrie sind digitale Modelle bei der Planung und Konstruktion von Produkten gängige Praxis. Ein digitaler Zwilling ist kein vollständiges Abbild eines Menschen, sondern bezieht sich stets auf eine bestimmte Problemlage, erklärt der Koordinator von MED²ICIN Dr.-Ing. Stefan Wesarg vom Fraunhofer-Institut für Grafische Datenverarbeitung. In der Medizin können digitale Zwillinge helfen, bessere Diagnosen und Therapieentscheidungen zu treffen oder Krankheiten frühzeitig vorzubeugen. Das von sieben Fraunhofer-Instituten entwickelte System soll schnellere Behandlungserfolge bringen.
Aus ärztlicher Sicht handelt es sich um ein ausgefeiltes Computerprogramm mit bedienerfreundlichem Armaturenbrett. Die Software führt individuelle Daten von Patienten (Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen, Laborwerte, Bilder etc.), verallgemeinerte Daten aus Populationsstudien sowie krankheitsbild-spezifische Daten anderer Patienten, z.B. zu deren Diagnosen und Medikation, zusammen.
Diese werden mit Algorithmen analysiert. Hinterlegt sind klinische Leitlinien, Therapiepfade sowie die pseudonymisierten Informationen anderer Betroffener. Je mehr Informationen auswertbar sind, desto bessere Vorschläge kann das System machen. Die Forscher hoffen: „Dieses Wissen wird die Medizin deutlich verbessern.“ Neben einer optimierten Betreuung sind auch Zeit- und Kostenersparnisse erwünscht.
Denn Anwender bekommen nicht nur angezeigt, welche Medikamente bei bestimmten Diagnoseparametern laut Leitlinien eingesetzt werden können, sondern auch welches Medikament bei vergleichbaren Patienten wie wirkte. Hinzu kommt die Verknüpfung mit den Therapiekosten.
Gastroenterologen sehen Zeit- und Kostenvorteile
Eine eigens designte Benutzeroberfläche fasst die Informationen und Empfehlungen übersichtlich und praktisch zusammen. Zur Auswahl stehen zudem Module für KI-basierte Analysen, z.B. von Fachpublikationen sowie zu den Kosten der Behandlungsoptionen. Über eine App können Patienten Alltagsdaten, z.B. aus einem Tagebuch, einbringen.
Eine Online-Umfrage unter knapp 50 Gastroenterologen in Krankenhäusern sowie Praxen, die das webbasierte System für Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) getestet haben, ergab: 23 % lobten die Kostenersparnis, 35 % stellten die dank des Modells verkürzte Behandlungszeit heraus.
PD Dr. Irina Blumenstein, Oberärztin am Universitätsklinikum Frankfurt/M., war als CED-Expertin an der Entwicklung von Anfang an beteiligt. „Das Tool stellt eine ausgezeichnete Unterstützung für den Behandlungsalltag dar“, findet die Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Ernährungsmedizin. So hilft z.B. ein Algorithmus, der die histologischen Befunde abgleicht, bei der Fehldiagnose-Reduzierung. Denn in bis zu 10 % der Fälle wird Morbus Crohn laut Dr. Blumenstein fälschlicherweise als Colitis ulcerosa diagnostiziert.
Fraunhofer- Gesundheitsforschung
Die Gesundheitsforschung umfasst etwa 15 % des Fraunhofer F&E-Budgets von 3 Mrd. Euro pro Jahr. Mehr als 40 der 76 Institute betreiben Gesundheitsforschung. Die Ausrichtung ist translational, stark interdisziplinär und markt- bzw. produktentwickungsorientiert
Zu viele Insellösungen und Medienbrüche
Sie weiß aber auch, wie mühsam es bislang ist, Patienten dafür zu gewinnen, ihre Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Den großen Vorteil in der Fraunhofer-Entscheidungshilfe sieht sie darin, dass damit aktuelles Wissen – jenseits der Maximalversorger – in die Fläche transportiert werden kann, was auf eine dann überall hohe Versorgungsqualität hoffen lässt.
Dr. Andreas Meusch von der Techniker Krankenkasse und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats bei dem MED²ICIN-Projekt, verweist auf die vielen IT-Insellösungen im Kliniksektor. „Wir sind Weltmeister der Medienbrüche“, spielt er auf die vielfachen Wechsel zwischen Papier und digitaler Information an.
Der CED-Prototyp wurde 2021 am Frankfurter Universitätsklinikum eingeführt. Die Krankheitsverläufe von Patienten, die z.B. an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa leiden, können sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken, da die Diagnose häufig zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr erfolgt. Dabei fallen je Patient viele Daten an. Für das Leitprojekt nutzten die Fraunhofer-Forscher die Daten von rund 600 Patienten, die von der gastroenterologischen Ambulanz im CSV-Format bereitgestellt wurden. 170 verschiedene Parameter wurden gezählt.
Die Visualisierung der Informationen wurde in enger Zusammenarbeit zwischen den Fraunhofer- und den CED-Experten entwickelt und auf Funktionalität, Zugänglichkeit und Nutzerfreundlichkeit evaluiert. Beispielsweise lenke die visuelle Kohortenanalyse – ohne lange Einarbeitungszeiten – die Aufmerksamkeit der Nutzer auf wichtige Ereignisse, wie Infektionen, Steroidvergabe oder erhöhte Blutwerte. Die Entwicklung des Systems sei unter strenger Einhaltung der europäischen Datenschutzgrundverordnung erfolgt.
Die Forscher wollen die Lösung nun mit Daten von mehr als 10.000 finnischen Patienten so weiterentwickeln, dass es in kommerzielle IT-Systeme integriert und im Medizinbetrieb genutzt werden kann. Die Entscheidungshilfe soll nicht nur für CED, sondern für eine Vielzahl chronischer Krankheiten nutzbar werden.
https://websites.fraunhofer.de/med2icin/
Quelle: Symposium – Fraunhofer Institute