Einordnung Ein genauer Blick auf die Digitalstrategie des Gesundheitsministeriums
„Ich will ein 20-jähriges Versprechen einlösen […]. Deutschlands Gesundheitswesen hängt in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück […]. Bei den Ärzten hat sich eine Art Defätismus entwickelt […]. Das können wir nicht länger verantworten.“ So, als wäre er gänzlich unbeteiligt und nicht schon selbst vor exakt 20 Jahren mit der damaligen Ministerin Ulla Schmidt verantwortlich für die Ankündigung einer elektronischen Patientenakte (ePA) gewesen, leitet Lauterbach seine Pressekonferenz zur Digitalstrategie ein.
Dann kündigt er „möglichst bald“ zwei Gesetze an: ein Digitalgesetz für die ePA, das E-Rezept, Austauschanwendungen wie Medical Messenger und „andere Apps“, sowie das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, durch das klinische Daten einfacher für die wissenschaftliche und industrielle Forschung zur Verfügung stehen sollen. Dies soll für vorhandene Daten wie Krebsregister und Krankenkassendaten gelten, genau wie für künftige Datensammlungen wie Genomdatenbanken und die vielfältigen ePA-Informationen.
Opt-out kommt – aber esgibt noch kein Konzept
Die ePA soll, so die Strategie, bis Ende 2024 für alle verpflichtend gemacht werden – es sei denn, man lehnt ausdrücklich ab! Das ist das Opt-out-Verfahren. Zur Erinnerung: Anders als in vielen europäischen Nachbarländern traute Ex-Minister Spahn seiner eigenen Bevölkerung nicht und schlug nur die verzagte Opt-in-Lösung vor mit der Konsequenz, dass Mitte Januar 2023 lediglich 0,7 % der Bevölkerung eine ePA hatten. Nun also das Opt-out-Verfahren mit dem Ziel (O-Ton Lauterbach), Ende 2025 80 % der GKV-Versicherten in der ePA als Nutzer zu haben.
Er berichtet, in Frankreich hätten nur 2 % der Versicherten widersprochen, in Lettland lediglich 5 %. Er erwähnt noch, dass die Gematik ein Konzept für das Opt-out-Verfahren entwickeln soll – eine juristische Herausforderung, auf die die Öffentlichkeit bis heute vergeblich wartet. Unabhängig vom optimistischen Zeitplan weiß Lauterbach noch nicht, wie ältere Patientendaten in die ePA hineinkommen; er sieht dafür noch keinen Prozess, denkt aber an die Hausärzte. Soweit die Ankündigungen zur ePA, die in einem Digitalgesetz präzisiert werden soll, welches Ende Juni immer noch nicht vorliegt – auch nicht als Referentenentwurf.
Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll den Umgang mit Patientendaten zur Forschung regeln. Diese Diskussion wird in Deutschland seit vielen Jahren kontrovers und ohne konstruktive Lösungen zwischen Datenschützern und Forschern geführt mit der Konsequenz, dass zukunftsträchtige Unternehmen wie z.B. BioNTech ihr Forschungszentrum nach Großbritannien verlegt haben – ein Armutszeugnis für den Standort Deutschland. Dementsprechend gespannt war die interessierte Öffentlichkeit auf die Lauterbach‘sche Lösung.
Nicht mehr der Antragssteller ist entscheidend, sondern der konkrete Anlass. Damit ist das Tor für die forschende Industrie geöffnet worden. Bevor aber das typisch deutsche Misstrauen gegenüber der „bösen Industrie“ neue Nahrung erhalten konnte, präzisierte Lauterbach: Konkret sollen die Patientendaten pseudonymisiert über das Forschungsdatenzentrum (des Bundes und der Länder) abgerufen werden. Eine Kommission entscheidet dann über die Freigabe von Anträgen zu Forschungsvorhaben. 2026 sollen laut Lauterbach bereits 300 Forschungsvorhaben mit den dann vernetzten und verfügbaren Daten arbeiten können. Eine weitere terminliche Festlegung des Ministers, die erst in der nächsten Legislaturperiode wirksam werden würde …
Eingehegter Datenschutz?
Mit Spannung war erwartet worden, ob das BMG den Gordischen Knoten beim Datenschutz durchschlagen kann. Natürlich ist wirksamer Datenschutz wichtig zum Schutz von Patientendaten. In Deutschland sind die Datenschützer aber durch ihre strikte Auslegung der EU-DSGVO übermächtig geworden zum Schaden vieler digitaler Projekte, die sich wegen Datenschutzbedenken nicht verwirklichen ließen. Tatsächlich überraschte Lauterbach mit der Ankündigung, das Vetorecht des Bundesdatenschutzbeauftragten (zurzeit Kelber, SPD) und des BSI (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) zu beschneiden. Der das Vetorecht definierende § 291 SGBV, der das Einvernehmen mit Datenschutz und BSI fordert, soll gestrichen werden. Beide Institutionen sollen zukünftig Teile eines Ausschusses sein, mit Medizin und Ethik in beratender Funktion. Lauterbach: „So gewinnen wir Qualität und Zeit.“
Führungsvakuum: Frust rund um die Gematik
Die Gematik wird verstaatlicht! Bereits im Koalitionspapier war zu lesen, dass diese Bundes-GmbH zu einer „Digitalagentur“ umfunktioniert wird. Spahn hatte für den Bund die 51-Prozent-Mehrheit festgelegt, die dem Bund eigentlich die volle Gestaltungskraft verlieh gegenüber der sich allzu oft selbst blockierenden Selbstverwaltung aus Ärzten, Krankenhausgesellschaft, Krankenkassen und Apothekern. Jetzt verkündet Lauterbach den nächsten Schritt: die Einrichtung einer Anstalt des öffentlichen Rechts, also die vollständige Verstaatlichung ohne die Selbstverwaltung an Bord. Was dann passierte, war abzusehen. Was bedeutet das für den rührigen Gematik-Chef Markus Leyk-Dieken, der noch von Spahn eingesetzt worden war?
Mittlerweile macht sich „Branchenfrust“ breit (Tagesspiegel). Im April war in Berliner Medien zu lesen, dass man beim BMG nicht mehr allzu lange mit Leyk-Dieken weiterarbeiten möchte. Nun steht fest, dass er zum Jahresende seinen Posten räumen muss. Das Führungsvakuum, in das die Gematik so gestürzt wurde, sorgt für Frust in der Digitalbranche, die ja auf vielen Ebenen sehr gut operativ mit Mitarbeitern der Gematik zusammenarbeitet. Schließlich wollen alle wissen, wie es weitergeht mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Hierzu wissen wir nach drei Monaten also eher weniger denn mehr.
Abgesehen vom Führungsvakuum war zu erwarten, dass sich die Stakeholder der Selbstverwaltung nicht abfinden werden mit ihrem Rauswurf aus der Gesellschafterriege der Gematik. Der scharfe Protest beim Deutschen Ärztetag im Mai war ein klares Signal. So entlarvt sich das Versprechen, nach dem Scheitern von ePA 1.0 jetzt die Ärzteschaft mitzunehmen auf dem Weg zu einer allseits funktionieren Telematikinfrastruktur, als nicht ernst gemeint, als unverbindlicher Populismus. Hoffentlich kann die Arbeitsebene dies ausgleichen!
dDMP sind wichtig für die Diabetologie
Erfreulich ist ein klares Bekenntnis innerhalb der Digitalstrategie zu einem dDMP (digitales Disease-Management-Programm). Angesichts der überragenden Bedeutung der verschiedenen DMP zu Typ-1- und Typ-2-Diabetes sowie in Zukunft zu Adipositas ist es fast beruhigend, dass die digitale Transformation von Versorgungsprozessen im Mittelpunkt stehen soll. In diesem Sinne, so Lauterbach, sollen indikationsbezogene, digital unterstützte und integrierte Versorgungspfade etabliert werden. Im Detail wird es aber ohne die sehr aktive inhaltliche Beteiligung von Fachgesellschaft und niedergelassenen Diabetologen nur schwer zu einem guten Ende kommen. Eine Kompetenz in der Sache ist im Ministerium nur ansatzweise vorhanden. Das lassen erste Workshops befürchten, die das Ministerium hierzu organisieren lässt.
Die Telemedizin galt ja schon als Rohrkrepierer der deutschen Digitalisierung. War während Covid-19 ein Hoch zu verzeichnen, das schnell als Durchbruch gefeiert wurde, brachen die Nutzerzahlen bei Ärzten wie Patienten nach der Pandemie schnell wieder ein. Die 30-Prozent-Deckelung der Abrechenbarkeit von Videosprechstunden führte dazu, dass Telemedizin bald ein Schattendasein fristete. Unverständlich, wenn man die Erwartungshaltung vieler auch internationaler Unternehmen und ihre Investitionen in Deutschland verfolgt hatte. Auch hier hat sich die Politik der Krankenkassen nicht als Beschleuniger, sondern als Verhinderer von Digitalisierung erwiesen.
Jetzt überrascht Lauterbach ein weiteres Mal mit der Ankündigung der Aufhebung der Deckelung und mit dem Ziel, 2026 (s.o.) „in mindestens 60 Prozent der hausärztlich unterversorgten Regionen eine Anlaufstelle für assistierte Telemedizin“ zu schaffen. Damit einher geht eine Stärkung der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe in Apotheken und den ebenfalls neuen Gesundheitskiosken. Es braucht wenig Phantasie sich vorzustellen, dass Ärzte trotz des Wegfalls der Deckelung nicht begeistert sein werden.
„Gemeinsam digital“ ...
... ist der Titel der Broschüre zur Digitalstrategie. Sie kann auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums aufgerufen und heruntergeladen werden. Dort heißt es:
„Mit der Digitalisierung sollen Bürgerinnen und Bürger dazu befähigt werden, eine aktivere Rolle im Gesundheits- und Pflegewesen einnehmen zu können, indem sie selbstbestimmt und informiert handeln und entscheiden.“
An selber Stelle ist ein Q&A-Video zu finden, in dem Minister Dr. Karl Lauterbach die Strategie und die damit angestrebten Ziele bewirbt.
Auch die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) kommen in der Digitalstrategie vor. Hatten viele befürchtet, DiGA würden im Lauterbach‘schen Kosmos keine Rolle spielen, sieht sich zunächst getäuscht. Die isolierte Anwendung wird aufgehoben. In Zukunft müssen DiGA als Medizinprodukte interoperabel zur ePA sein und ihre bisherigen Risikoklassen I und IIa werden erweitert auf IIb, was diesen Markt hoffentlich interessanter werden lässt. DiGA können zukünftig laut Lauterbach umfassende telemedizinische Versorgungskonzepte unter Einbeziehung von Ärzten abbilden. In der bisherigen Form waren die Ärzte bei der Anwendung der DIGA durch die Patienten ausgeschlossen worden.
Die Vorstellung der Digitalstrategie des BMG kam in vielen Punkten positiv rüber und ließ Zuversicht wachsen, dass die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens doch endlich Fahrt aufnehmen könnte. Jetzt warten wir auf die Referentenentwürfe von Digitalgesetz und Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Nachricht kurz vor Redaktionsschluss: Es kommt sogar ein eigenes Gematikgesetz zum Umbau der Bundes-GmbH in eine Nationale Digitalagentur!
Leider hat sich der Minister bei seiner Strategie, wie man hört, nicht mit den anderen Ministerien und auch nicht mit den Bundesländern abgestimmt. Das lässt nichts Gutes ahnen. Der Funke der Begeisterung ist deshalb noch nicht übergesprungen.