Tabakentwöhnung auf Kosten der Kassen?
Wenn jemand genug Geld für Zigaretten hat, muss er dann auch seine Entwöhnung selbst bezahlen? Mit Fragen wie dieser soll sich künftig das Bundesverfassungsgericht auseinandersetzen. Eine COPD-Patientin hat im September 2019 Verfassungsbeschwerde eingelegt, nachdem das Bundessozialgericht ihre Klage auf Kostenerstattung einer Raucherentwöhnung abgelehnt hatte.
Hausarzt sieht Verletzung der Grundgesetzes
Unterstützt wird die Klägerin bereits seit 2011 von ihrem Hausarzt Dr. Ulf Ratje aus Eckernförde, der sich unter anderem in der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung für die Kostenübernahme einsetzt. In seinen Augen missachtet der Gesetzgeber das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Gleichberechtigung. Bei anderen lebensstilabhängigen Erkrankungen bestehe der Konsens, dass die Solidargemeinschaft die Kosten der Behandlung trage, so etwa bei Alkoholabhängigkeit oder Typ-2-Diabetes. Er appellierte daher per E-Mail an die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU), sich für eine Erstattung der Kosten durch die Krankenkassen einzusetzen. Ludwig antwortete jedoch, die Regierung habe wenig Einfluss, die Selbstverwaltung sei zuständig – was so im Fall der Raucherentwöhnung nicht ganz stimmt. Dr. Ratje widersprach ihr dementsprechend scharf. Im Wesentlichen scheitern Versuche, die Kosten an die Krankenkassen zu übertragen, an der Gesetzeslage.
Bislang sind Medikamente zur Raucherentwöhnung ausdrücklich aus dem Leistungsspektrum der Krankenkassen ausgeschlossen. Der Gesetzgeber argumentiert, sie würden vorrangig einer „Erhöhung der Lebensqualität“ dienen und stellt sie in §34 des SGB V auf eine Stufe mit Arzneimitteln, die den Haarwuchs verbessern, die Potenz steigern oder den Appetit zügeln. Diese Einstufung beruht noch auf dem GKV-Modernisierungsgesetz von 2004, mit dem die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Lohnnebenkosten dauerhaft senken wollte. Man ging davon aus, dass Tabakabhängige ihre Sucht auch ohne Nikotinersatztherapie in den Griff bekommen. Vereinzelt versuchte der G-BA die Krankenkassen trotz des §34 für die Raucherentwöhnung in die Pflicht zu nehmen, beispielsweise 2008 im Fall des Disease Management Programms COPD. Allerdings wandte sich das Bundesgesundheitsministerium gegen den entsprechenden Abschnitt.
Leitlinie empfiehlt Nikotinersatzmittel
Mittlerweile ist die Einschätzung, eine Nikotinersatztherapie sei generell nicht erforderlich, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen veraltet. Die S3-Leitlinie „Screening, Diagnostik und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums” von 2015 gibt Nikotinersatztherapien eine Evidenz-A-Empfehlung. Die medikamentöse Therapie „soll“ demnach für Raucher erfolgen, die es nicht schaffen, aus eigener Kraft aufzuhören, und zwar kombiniert mit einer Verhaltenstherapie. Diese Maßnahme hilft offenbar fast einem Drittel der Betroffenen, mindestens ein Jahr lang abstinent zu leben. Nach einer unstrukturierten Beratung in der Sprechstunde bleiben dagegen laut Dr. Ratje nur 5 % der Raucher ein Jahr lang abstinent.
Das Bundessozialgericht berücksichtigt in seinem Urteil zwar, dass es eine S3-Leitlinie gibt. Allerdings heißt es dort, der Nutzen der pharmakologischen Therapie sei trotzdem „wissenschaftlich umstritten“. Als Quelle berufen sich die Richter unter anderem auf das IQWiG, das auf seiner Homepage jedoch anerkennt, dass Nikotinersatztherapien beim Aufhören helfen können. Laut IQWiG könnte es allerdings sein, dass die Studienlage verzerrt ist. Verschiedene Forschergruppen vermuten offenbar, dass einige Studien, in denen die Ersatzmittel nicht wirkten, nicht veröffentlicht wurden. Dennoch besagen Schätzungen, die diese Verzerrung berücksichtigen, dass die Therapie in etwa drei von 100 Fällen hilft.
Die gesetzliche Einstufung von Nikotinersatzmitteln als Lifestyle-Produkt empört Dr. Ratje. Er betont, dass sie in einer leitliniengerechten Therapie ausschließlich dazu dienen, die Entzugssysmptome abzumildern, die Tabakabhängige bei Abstinenzversuchen erleiden. Zudem seien die Lungen- und Herzerkrankungen, die das Rauchen nach sich ziehen kann, als schwerwiegend einzuschätzen.
Gesellschaftlich umstritten ist eine Erstattung der Nikotinersatztherapie unter anderem auch, weil Raucher viel Geld für Zigaretten ausgeben. Mit diesem Geld könnten sie stattdessen ihre Entwöhnung finanzieren, argumentiert die Drogenbeauftragte Ludwig in ihrem Schreiben an Dr. Ratje.
Der Hausarzt hält dieser Argumentation entgegen, dass die Kosten der strukturierten Tabakentwöhnung die Ressourcen sozial schwächerer Patienten übersteigen. Und er gibt zu bedenken, dass auch die volkswirtschaftlichen Kosten, die die Nikotinabhängigkeit verursacht, immens sind. Verschiedene ärztliche Verbände fordern schon lange eine Erstattung der Tabakentwöhnungskosten durch die gesetzlichen Krankenkassen, so etwa der Bundesverband der Pneumologen.
Medical-Tribune-Bericht