Traue keinem medizinischen Gutachter, den du nicht selbst beauftragt hast
Thomas de Maizière, der damalige Bundesinnenminister beklagte im Juni 2016, dass 70 % aller Asylbewerber unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und für nicht transportfähig erklärt würden.
Das kam nicht nur dem Politiker spanisch vor, sondern auch Professor Dr. Wolfgang Meins von der Praxis für neuropsychiatrische Gutachten in Hamburg. Er findet, dass Deutschlands Haus- und Fachärzte in dieser Hinsicht oft eine unrühmliche Rolle spielen. Vor allem dann, wenn sie „hinsichtlich des Schweregrades befundlich nicht nachvollziehbare Diagnosen“ oder „gewagte Kausalitätsannahmen“ produzieren.
Stundensätze wie spezialisierte Anwälte
Ihren politisch-moralischen Überzeugungen mögen sie damit vielleicht gerecht werden, sagt der Neurologe. Als medizinische Gutachter, als die sie in diesem Zusammenhang agieren, sind sie seiner Meinung nach mit solchen Verbiegungen glatt durchgefallen.
Die angesprochenen Ärzte stehen nicht alleine da. Auch in deutschen Gerichten, Versicherungen und Krankenkassen sieht Prof. Meins regelmäßig „parteiische Gutachter am Werk“. Die meisten lassen sich seiner Ansicht nach allerdings weniger von moralischen Gründen, sondern von persönlichen oder finanziellen Anreizen motivieren.
Bei zivilrechtlichen Verfahren verdient mancher Gutachter, so berichtet der Autor, sogar die Stundensätze hoch bezahlter spezialisierter Anwälte. Das führe dazu, dass selbst von Kollegen in herausgehobenen Positionen die eigentlich zu Objektivität und Neutralität verpflichtenden Regeln immer wieder gebrochen würden. „Wenn in Ermangelung substanzieller Argumente dem Gericht durch das Zünden von Nebelkerzen bloß der Durchblick erschwert und dem Auftraggeber Erfolgsaussichten suggeriert werden, schadet das nicht zuletzt auch dem ganzen Stand“, so Prof. Meins.
15 Jahre lang hat der Neurologe selbst Gutachten im sozial- und zivilrechtlichen Bereich erhoben, reichlich Zeit, um die Versuchungen der Branche zu studieren.
Angestellte Versicherungsärzte wollten als Gutachter oft auch dem eigenen Unternehmen dienen, berichtet er, BG-Beratungsärzte manchmal die Vertrauensbeziehung zum Versicherungsträger nicht riskieren. Auch mancher freiberufliche Kollege würde sich seiner Erfahrung nach gut überlegen, gegen die Versicherung zu argumentieren; wohl wissend, dass die anschließend drohende Diskussion mit hinzugerufenen Experten oft viel Zeit und Aufwand kostet. Eine Studie zeige, so berichtet Prof. Meins, dass z.B. niedergelassene Neurologen und Psychiater als Rentenversicherungsgutachter zu selten eine depressive Störung im rentenberechtigten Ausmaß feststellten – also im Schnitt zu streng urteilten.
Mittel und Wege den Gutachten heimlich die erwünschte Schlagseite zu geben, hat der Autor zahlreiche kennengelernt – gerade im psychiatrischen Bereich. Man könne den Schweregrad der Störung abschwächen, berichtet er, oder eine Störung diagnostizieren, um sie im selben Atemzug mit dem Argument, angesichts der guten Behandlungsmöglichkeiten sei eine Chronifizierung nicht nachvollziehbar, wieder kleinreden. Gängig sei es zudem, eine fragwürdige Sondermeinung als vermeintlich vorherrschende Lehrmeinung zu zitieren. „Auch Überlegungen zur Kausalität bieten nicht selten Möglichkeiten, das Gutachtenergebnis in die gewünschte Richtung zu steuern.“ Recht verbreitet ist laut Prof. Meins ferner die Strategie, auf Grundlage vereinzelter Aktenhinweise eine ganze Persönlichkeitsstörung zu konstruieren.
Mehr Transparenz über Interessenkonflikte herstellen
Die einzelnen Gutachten selbst seien oft schwer oder gar nicht als parteiisch zu erkennen, beklagt der Neurologe. „Eine systematische Verzerrung erkennt man leichter anhand einer Stichprobe von mehreren Gutachten ein und desselben Verfassers.“ Nach einer solchen Analyse hat das Landgericht Köln 2004 schon einmal den Sachverständigen eines überwiegend für Versicherungsgesellschaften tätigen Begutachtungsinstituts für befangen erklärt.
Aber die medizinische Community, meint Prof. Meins, dürfe es nicht allein den Gerichten überlassen, die schwarzen Schafe unter ihren gutachtenden Mitgliedern herauszusieben: „Die infrage kommenden Fachgesellschaften sollten sich des Problems stärker als bisher annehmen.“ Schlichtungsstellen könnten z.B. Ansprechpartner benennen. Wichtig wäre auch der Schritt, die Experten selbst zu mehr Transparenz in Hinblick auf Interessenkonflikte und Abhängigkeiten zu verpflichten. Denn parteiische Gutachter schaden nicht nur der Gerechtigkeit und unschuldigen Menschen, ihre Fehlurteile fallen letztlich auf die ganze Profession zurück.
Meins W. Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85: 690-695