Mischt die EU die Nutzenbewertung auf?
Die Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, die von der EU entwickelte systematische Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien (Health Technology Assessment – HTA) zu übernehmen. Das betrifft sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukte der Risikoklassen II B und III sowie In-vitro-Diagnostika.
Pharmaindustrie ist vom EU-Vorschlag angetan
Die Meinungen zum EU-Vorschlag sind gespalten. Zustimmung kommt aus der Industrie, z.B. vom Verband forschender Arzneimittelhersteller, der den deutschen Prozess der Nutzenbewertung als kompliziert und methodisch fragwürdig bezeichnet. „Vor allem die engere Verzahnung von Zulassungsbehörden und Nutzenbewertungsinstanzen im Arzneimittelsektor wäre ein echter Schritt nach vorne“, erklärt vfa-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. Ein Konsens, wie Arzneimittelstudien gestaltet sein sollten, würde allen Beteiligten bei der Umsetzung helfen.
Kontra kommt von den gesetzlichen Krankenkassen. Die EU-Pläne würden den Patientenschutz gefährden, warnt Martin Litsch, Chef des AOK-Bundesverbandes. In Deutschland hätten Patienten unmittelbaren Zugang zu allen zugelassenen Medikamenten. „Die Nutzenbewertung ist daher unsere einzige Möglichkeit, wirklich innovative und gute Arzneimittel von Nachahmerprodukten zu trennen und die Preise zu verhandeln.“
Auch der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten lehnt Änderungen ab: Wer die hohen Standards in Deutschland absenke, opfere den Anspruch der Patienten auf die bestmögliche Therapie und provoziere zudem eine weitere „Explosion der Arzneimittelausgaben“. Es verwundere nicht, dass Pharmaverbände diese Initiative umgehend begrüßt haben.
2016 hatte der GKV-Spitzenverband die Diskussion über die Stärkung der EU-weiten Zusammenarbeit bei der Bewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten begrüßt. Die freiwillige Kooperation und Aufnahme neuer Konzepte in einzelnen Mitgliedstaaten seien vorteilhaft für die Weiterentwicklung der Bewertung von Gesundheits-technologien.
Die geplanten verbindlichen Standards werden jedoch kritisch gesehen. „Zusammenarbeit der EU-Mitglieder bei der wissenschaftlichen Bewertung von neuen Arzneimitteln ja, aber eine Absenkung des Niveaus durch Vereinheitlichung auf einem niedrigeren Standard nein“, sagt Johann-Magnus v. Stackelberg, Vorstandsvize des GKV-Spitzenverbandes.
Gemeinsames Vorgehen ist nicht schnell realisierbar
Laut GKV-Spitzenverband scheint ein schnelles Festlegen auf eine gemeinsame Herangehensweise kaum möglich. Je nachdem welchen Ansatz man verfolge, führe das z.B. zu anderen Vergleichsgrößen und zu einer anderen Bewertung patientenrelevanter Endpunkte. „Im Moment ist nicht erkennbar, wie eine europaweit verbindliche Nutzenbewertung ausgestaltet werden könnte, ohne in einzelnen Ländern zu massiven Friktionen zu führen“, so v. Stackelberg.
Das Europäische Parlament und der Ministerrat der Mitgliedstaaten müssen über den Verordnungsentwurf entscheiden.