Wie Mediziner dazu beitragen, dass schwer kranke Personen abgeschoben werden
Im Jahr 2019 wurde ein psychisch schwer kranker Mensch mit suizidalen Tendenzen nach Afghanistan abgeschoben. Am Tag der Abholung hatte er sich die Pulsadern aufgeschnitten, sein Arm wurde mit 40 Stichen genäht. Die Polizei brachte ihn von der Notfallambulanz gefesselt direkt zum Flughafen. Ein unbeteiligter Polizist kommentierte: „Oh cool, was ist das denn? Hannibal Lecter oder was?“
Dieser Fall lag in der Zuständigkeit Sachsens, wurde aber von der Abschiebungsbeobachtung in Nordrhein-Westfalen beobachtet und in Medienberichten aufgegriffen. Hinsichtlich der menschenverachtenden Äußerung sei es ein Einzelfall, bezüglich der gesundheitlichen Situation der abgeschobenen Person jedoch nicht, berichten Dalia Höhne und Elena Vorlaender. Als Abschiebungsbeobachterinnen des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe beobachten sie Rückführungen an den Flughäfen Düsseldorf und Köln-Bonn, von der Übergabe der Personen an die Bundespolizei bis zum Betreten des Flugzeugs.
„Bei einer Sammelabschiebung werden 100 bis 150 Menschen in einem Charterflugzeug ausgeflogen. Einzige medizinische Begleitung während des Fluges sind ein Arzt, in der Regel ein Allgemeinmediziner, und eine ärztliche Assistenz“, erklären sie. Selbst während der Coronapandemie hätten die Sammelmaßnahmen weiterhin stattgefunden – beispielsweise am 24. März 2020, also einen Tag, nachdem beschlossen wurde, dass sich in NRW nicht mehr als zwei Personen gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegen dürfen1. Entgegen dem Kontaktverbot trafen am Flughafen Düsseldorf 31 Personen aufeinander, die nach Serbien abgeschoben wurden, zuzüglich Polizisten, Dolmetschern etc.
Viele Personen, die rückgeführt werden, haben in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht einen Krieg erlebt, wurden gefoltert oder vergewaltigt. Sie sind häufig traumatisiert. Neben gesetzlichen Bestimmungen tragen auch Ärzte dazu bei, dass diese Menschen trotz massiver gesundheitlicher Probleme abgeschoben werden – beispielsweise, indem sie Abschiebungen begleiten oder Geflüchteten mangels besseren Wissens formal inkorrekte Atteste ausstellen.
Abschiebung eines „todkranken“ Mannes nach Ghana
Frontex-Formular „fit to fly“ bescheinigt Reisetauglichkeit
Ob die gesundheitliche Situation eines Betroffenen eine Abschiebung zulässt, wird bei dessen Abholung von einem von den Behörden beauftragten Arzt geprüft – sofern entsprechende Kenntnisse vorliegen und die Behörde dies angeordnet hat. Ist der Arzt der Meinung, dass die Person den Flug überlebt, bescheinigt er dies mit einem sogenannten „fit to fly“, einer kurzen Standard-Bescheinigung von Frontex, der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache. „Es geht dabei allein um die Transportfähigkeit“, betont Höhne. Mit der näheren gesundheitlichen Situation der Menschen befassen sich die Mediziner, die die Abschiebung begleiten, nicht. „Sie gehen davon aus, dass Abschiebehindernisse vorher rechtmäßig ausgeschlossen worden sind“, erklärt Dr. Gisela Penteker, Allgemeinärztin und Mitglied im Vorstand des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge Niedersachsen sowie in der Organisation IPPNW. Doch diese Annahme stimmt nur bedingt. Im Asylverfahren finden psychische Erkrankungen nicht wirklich Beachtung, kritisiert IPPNW. Zwar müssen Geflüchtete bei einer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flucht berichten, warum sie ihr Heimatland verlassen haben. Dabei wird jedoch keine Situation geschaffen, in der sie darüber sprechen könnten, welche traumatisierenden Dinge sie erlebt haben und dort möglicherweise wieder erleben würden. Hierfür würde ein vertrauensvoller und sicherer Raum benötigt. Ein Abschiebehindernis kann eine Erkrankung per Gesetz nur sein, wenn sie so schwer ist, dass eine Rückführung lebensbedrohlich ist oder im Herkunftsland weder eine Behandlung möglich ist noch Medikamente verfügbar sind. Ob Letzteres der Fall ist, wird vom Bundesamt für Migration und Flucht geprüft. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Betroffenen eine realistische Chance haben, die Versorgungsangebote zu erreichen. „Die Behandlungsmöglichkeit kann auch in einem 800 km weit entfernten Ort innerhalb der Landesgrenzen sein, das reicht für eine Abschiebung“, berichtet Höhne. Das Aufenthaltsgesetz geht grundsätzlich davon aus, dass eine Abschiebung gesundheitlich möglich ist. Will ein Geflüchteter geltend machen, dass dies medizinisch gefährlich wäre, muss er der Behörde schnellstmöglich ein entsprechendes ärztliches Dokument vorlegen. Der jeweilige Sachbearbeiter entscheidet dann, ob eine amtsärztliche Untersuchung notwendig ist. Eigentlich hätten die Sachbearbeiter die Aufgabe, allen Hinweisen auf Reiseunfähigkeit nachzugehen, berichtet Dr. Penteker. Dies geschehe jedoch nur selten. „Ich habe oft erlebt, dass die Untersuchung nicht angeordnet wurde, mit dem Hinweis, die vorgelegten Atteste entsprächen nicht den behördlichen Vorgaben und müssten daher nicht berücksichtigt werden, selbst wenn die Krankenakte zwei Zentimeter dick war.“ Wie Mediziner formal korrekte Atteste für Asylverfahren verfassen können, erklärt der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte in einer Handreichung, die dem IPNW-Report angefügt ist (s. unten). Droht einem Patienten die Abschiebung, können sich Ärzte auch an die Abschiebungsbeobachtung NRW wenden. Seit 2014/15 hat der Gesetzgeber es erheblich erschwert, psychische Erkrankungen als Abschiebehindernis geltend zu machen. Der „traurige Höhepunkt“ dieser Entwicklung sei das Asylpaket II von 2016 gewesen, meint Dr. Penteker. Nach diesem gilt selbst eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) regelmäßig nicht mehr als Abschiebehindernis.Selbst Patienten mit PTBS werden meist zurückgeführt
Noch dazu schließt das Geordnete-Rückkehr-Gesetz von 2019 psychologische Psychotherapeuten pauschal von der Diagnostik in Asylverfahren aus. Der Abschiebereport der IPPNW veweist darauf, dass diese Maßnahme im Gesetzesentwurf mit einer Zeitersparnis bei Rückführungen begründet werde. Dr. Penteker befürchtet, dass der EU-Migrationspakt weitere Verschärfungen nach sich ziehen könnte. Hat ein Geflüchteter es trotz aller Hürden geschafft, der Behörde ein korrektes ärztliches Dokument vorzulegen, prüft ein Amtsarzt, ob der Betroffe reisefähig ist. IPPNW kritisiert, die Behörden würden sich einen festen Stamm von Medizinern halten, die keine Skrupel hätten, die umstrittene Flugreisefähigkeitsbescheinigungen auszustellen. Die Identität der Mediziner wird gut geschützt. Fachlich seien sie oft nicht qualifiziert, um psychische Erkrankungen zu diagnostizieren, sagt Dr. Penteker. Mit der Beauftragung dieser Ärzte würden die Behörden einer Verletzung der Sorgfaltspflicht daher Vorschub leisten, heißt es im Abschiebereport von IPPNW. Berufsrechtlich können verbeamtete Mediziner dafür jedoch nicht belangt werden. Sie unterstehen laut der Heilberufsgesetze der Länder nicht dem Berufsrecht der Kammern – einzige Ausnahme ist Hessen. Der Ärztetag hielt 2017 daher eigens in einem Beschluss fest, dass alle Ärzte den ethischen Grundsätzen der Berufsordnung verpflichtet sind, auch wenn sie nicht der ärztlichen Berufsgerichtsbarkeit unterliegen. Stellt ein Amtsarzt fest, dass eine Person nicht reisefähig ist, wird diese für einen befristeten Zeitraum geduldet. Die Erkrankung muss immer wieder attestiert werden, zu einem humanitären Bleiberecht führe sie selten, berichtet Dr. Penteker.1. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken, Drucksache 19/21149
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