Gesetzliche Krankenversicherung „Ungenierter Zugriff auf die Versichertengelder“
Wen juckt, was im Koalitionsvertrag steht? Die Autoren jedenfalls nicht. Denn SPD, Grüne und FDP schrieben einst: „Wir bekennen uns zu einer stabilen und verlässlichen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Den Bundeszuschuss zur GKV dynamisieren wir regelhaft. Wir finanzieren höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln.“ Die Realität ist im letzten Jahr der Legislatur eine andere.
Rund 60 Mrd. Euro für Versicherungsfremdes
Das heißt: Die GKV-Beitragszahler schultern jährlich mindestens 10 Mrd. Euro für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weil der Bund die zugesagte Refinanzierung aus Steuermitteln unterlässt. Eine von der IKK gesund plus beauftragte Untersuchung addiert die versicherungsfremden Leistungen, die von den Kassen und dem Gesundheitsfonds finanziert wurden, auf insgesamt knapp 60 Mrd. Euro (2023) – was 2,54 Beitragssatzpunkten entspricht. IKK-Chef Uwe Deh bemerkt: „Der Fantasie beim ungenierten Zugriff auf Versichertengelder sind keine Grenzen gesetzt.“
Der Effekt der fehlenden Einnahmen wird durch höhere Aufwendungen verstärkt. In diesem Jahr sind die GKV-Ausgaben fürs Krankenhaus bislang um rund 8 % gestiegen, für Arzneimittel um 10 %, für die ärztliche Versorgung um 5,3 % und für Heil- und Hilfsmittel um bis zu 10 %. Dies sei vor allem auf gesetzlich induzierte Preiserhöhungen und den Abbau von Steuerungselementen wie das Verbot von Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich zurückzuführen, erklärt der Verband der Ersatzkassen.
Kassenbeitragssatz steigt im Schnitt auf über 17 %
Der Schätzerkreis, in dem Gesandte des BMG, des Bundesamtes für Soziale Sicherung und des GKV-Spitzenverbandes sitzen, geht für 2025 von einer Finanzierungslücke von 13,8 Mrd. Euro aus. Um diese zu schließen, ist rechnerisch ein durchschnittlicher Zusatzbeitragssatz von 2,5 % notwendig – 0,8 Prozentpunkte mehr als bisher. Der Kassenbeitragssatz steigt damit durchschnittlich auf über 17 %.
Kurios: Während die Schlussfolgerung des Bundesgesundheitsministers „Deswegen brauchen wir die Krankenhausreform“ lautet, entdeckt der Chef der größten deutschen Krankenkasse, Dr. Jens Baas von der TK, hier weiteres Ungemach. Von 2026 bis 2035 sollen die Beitragszahler zusätzlich jährlich 2,5 Mrd. Euro für den Umbau der Krankenhauslandschaft aufbringen – für Investitionen, die eigentlich komplett von den Bundesländern zu bezahlen wären. Der GKV-Spitzenverband hält den Transformationsfonds für verfassungswidrig.
Prof. Lauterbach benennt die Misere: „Das deutsche Gesundheitswesen ist das teuerste in Europa, weil es in vielen Bereichen nicht effizient ist. Daher ist auch die Lebenserwartung bei uns schlechter als in vielen Nachbarländern. Es fehlt an Vorbeugemedizin und an Digitalisierung.“ Allerdings sieht er seine Gesetzgebung nicht als das Problem an, sondern als die Lösung: „Nur Strukturreformen bremsen den Ausgabenanstieg.“ Damit will er jetzt punkten.
Kassenchefs wie Frank Hippler von der IKK classic beruhigt das jedoch nicht. Die vom Bundestag verabschiedeten oder geplanten Gesetze werden „2025 zu deutlichen Kostensteigerungen in der GKV führen“, meint er. „Wir wissen nicht, ob und wie diese in ihren finanziellen Auswirkungen in die Prognose des Schätzerkreises eingeflossen sind.“
Berater: „Das System ist nicht mehr finanzierbar“
Die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte hat ausgerechnet, dass die Unterdeckung der gesetzlichen Kassen wegen überproportional steigender Ausgaben für die Versorgung einer alternden Gesellschaft sowie innovative Therapien bis zum Jahr 2040 auf rund 234 Mrd. Euro steigen wird. „Das System ist nicht mehr finanzierbar“, meint Dr. Gregor-Konstantin Elbel, zuständig für Kostenträger und Kassen. „Der Fokus muss jetzt auf Kostendämpfung, Effizienz und dem Abbau versicherungsfremder Leistungen liegen.“
Quelle: Medical-Tribune-Bericht