Kommentar Unsere verkokste Gesellschaft

Aus der Redaktion Autor: Tobias Stolzenberg

In Deutschland wird so viel gekokst wie nie zuvor. Das führt uns der REITOX-­Jahresbericht 2024 zur Situation illegaler Drogen nachdrücklich vor Augen. 

Und entgegen den gängigen Klischees ist Kokain keine Droge der Schönen und Reichen, von Kunst- oder Filmschaffenden mehr. Der Stoff ist in den letzten Jahren wie eine Lawine durch unser Land gerauscht und hat sich in der Mitte der Gesellschaft breit gemacht. Mittlerweile warnt der Bundesdrogenbeauftragte gar vor einer „Kokainschwemme“.

In den sechs Jahren zwischen 2015 und 2021 hat sich die Zahl der Erwachsenen, die die Droge zumindest einmal im Jahr genommen haben, mehr als verdoppelt. Und laut BARMER-Suchtatlas hat sich die Zahl derjenigen, die wegen Kokainmissbrauchs ärztlich behandelt werden, in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Auch die von Zoll und Polizei sichergestellten Mengen steigen rasant: Wurden 2017 noch acht Tonnen Kokain beschlagnahmt, waren es 2023 schon 43 Tonnen. Dabei muss klar sein: Diese Statistiken sind nur die Spitze des Eisbergs, die tatsächlichen Zahlen dürften viel höher liegen.

Zugleich wird das Kokain immer reiner, immer billiger und immer leichter verfügbar. Konsumierende müssen ihre Dealer nicht mal mehr aufsuchen – der Stoff kommt per „Kokstaxi“ nach Hause, vor den Club oder in die Bar. In Berlin beispielsweise verteilen die Händler ungeniert Visitenkärtchen mit Telefonnummer, Rabattangeboten und Mindestbestellwert. Geordert wird per Whatsapp oder Telegram.

Der Polizei sind derweil die Hände gebunden: Scheinkäufe laufen juristisch regelmäßig ins Leere, da sie vom Lieferanten schnell als „Tatprovokation“ dargestellt werden können. Und für jeden Fahrer, der festgesetzt wird, findet sich schnell ein neuer. An die Strukturen hinter den Boten kommt man so nicht.

Angesichts dieser Entwicklungen müssen der rechtliche Rahmen für die Strafverfolgung präzisiert und die Hilfe für Abhängige und Ausstiegswillige verbessert werden. Auch Präventionsmaßnahmen gehören gestärkt. Denn die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der hohen Verfügbarkeit dürften immens sein und erst mit einiger Verzögerung offensichtlich werden. Letztlich geht es nicht um Statistiken oder spektakuläre Bilder von Kokainfunden. Es geht immer um Menschen.