Immer weniger Ärzt:innen Vom Priorisieren und Rationieren
Heute müsse man sich dem „Wie“ stellen: Wie könne man ein gesteuertes Seinlassen hinbekommen?
Der Ausblick in die Zukunft sei auf jeden Fall nicht gut: Für das Jahr 2040 sei mit etwa 20 % mehr Pflegebedürftigen zu rechnen, und somit mit 20 % mehr Morbidität. Gleichzeitig fallen jedes Jahr rund eine Million Beitragszahler aus und 1,5 Millionen Menschen werden zu Sozialleistungsempfängern. Es droht also eine deutliche Abnahme an Beitragszahlern bei einer deutlichen Zunahme an Leistungsempfängern.
Darüber hinaus trifft dieser demografische Wandel auch die Gesundheitsberufe. Seit vielen Jahren wird der wachsende Mangel dort schon prognostiziert. „Irgendwann demnächst werden 800.000 Pflegekräfte fehlen“, so Dr. Wenning.
Und wie sieht es bei den Ärztinnen und Ärzten aus? Die Altersstruktur von z.B. Westfalen-Lippe – ein Bezirk, das etwa für 10 % der Bundesrepublik steht und damit als repräsentativ betrachtet werden kann – zeigt, dass es eine große Zahl an Ärztinnen und Ärzten über 60 Jahren gibt. „Gehen diese Ärzte in Ruhestand, gibt es niemanden, der sie ersetzen kann. Diese dann fehlenden Kolleginnen und Kollegen werden dauerhaft fehlen.“
Der eigentliche Ärztemangel kommt also erst noch, betonte Dr. Wenning, und zwar in den nächsten zehn Jahren. Im Anschluss verbessere sich die Situation möglicherweise wieder. Die dann wieder steigende Zahl an Ärzten erklärt sich durch den Zuzug ausländischer Kolleginnen und Kollegen. In Westfalen-Lippe etwa hat heute schon die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte, die neu im Kammerbezirk anfangen, den Abschluss nicht in Deutschland gemacht.
Ein Drittel mehr Studienplätze, um Status quo zu halten
Der Zuzug sei begrüßenswert. Problematisch sei aber, dass sich die Gesamtmenge der Ärztinnen und Ärzte nicht gleich verteilt: Wer in Deutschland seinen Abschluss gemacht hat, bleibt oft lieber in der Nähe seiner Universität und seines Freundeskreises, und damit im städtischen Umfeld. Entsprechend konzentrieren sich die ausländischen Kolleginnen und Kollegen aufs Land.
Auch die neue Verteilung der Geschlechter bringt Konsequenzen mit sich. So verändert sich durch die Präferenz der Geschlechter die Verteilung auf die jeweiligen medizinischen Fachgebiete und verändert damit das Facharztangebot. Hinzu kommt, dass Frauen häufiger in nicht-kurativen Berufsfeldern arbeiten und sich generell der Trend hin zu Teilzeit und Anstellung weiter verschiebt.
Das Ergebnis fasst Dr. Wenning in diesen Zahlen zusammen: 1.000 ältere Ärztinnen und Ärzte entsprechen etwa 780 kurativen Vollzeitstellen – die gleiche Anzahl junger Ärztinnen und Ärzte entspricht schon nur noch 660 kurativen Vollzeitstellen. „Den Status quo an ärztlicher Versorgung zu halten bedeutet heute schon, dass ein Drittel mehr Studienplätze benötigt werden“, unterstrich Dr. Wenning.
Zu den Gegenstrategien in einer solchen Situation zählen auf jeden Fall Priorisierung und Rationierung. „Um die Diskussionen hierzu werden wir nicht herumkommen“, so Dr. Wenning. In England hatten Patientinnen Herceptin durchgeklagt – das Gericht hatte aber nicht entschieden, was stattdessen in dem budgetierten System wegfallen muss. Unter dem Motto „Was Herceptin wirklich kostet“ fiel dann die Entscheidung, stattdessen Kürzungen in der Palliativmedizin vorzunehmen.
Auch das Gegenrechnen von Kosten und Lebenszeit ist in England ein Bestandteil der Diskussion; während sich in Belgien das entsprechende Beispiel zum Thema Rationierung findet: Dort geht es nämlich jetzt angesichts schwindender Personal- und Finanzressourcen darum, Suizidassistenz nicht nur bei schwerer Erkrankung zuzulassen. „Wir müssen uns diesen Themen in der ärztlichen Diskussion jetzt sehr intensiv stellen“, so Dr. Wenning.
Quelle: 130. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin