Kommentar Von der Blauzone zur Grauzone
Longevity-Fans und Gesundheitsinfluencern zufolge sind für die lokale Häufung von Supercentenarians (≥ 110 Jahre) vor allem eine gesunde Ernährung, Bewegung und viele Sozialkontakte verantwortlich.
In dieser Rechnung fehlt allerdings Saul Newman. Der Alternsforscher von der University of Oxford hat gerade einen Ig-Nobelpreis gewonnen, einen alternativen Wissenschaftspreis, dessen Vergabe in erster Linie humoristischen Kriterien folgt. Neben Newmans Arbeiten wurden etwa Studien über die rektale Atmung von Säugetieren und zur Drehrichtung von Haarwirbeln auf der Nord- vs. Südhalbkugel prämiert. Newmans These lautet: Die blauen Zonen lassen sich vor allem durch statistische und bürokratische Ungereimtheiten erklären.
So gibt es dort, wo viele Supersenioren leben, oft einen erstaunlichen Mangel an Dokumentation. Die größte Dichte an Hundertjährigen auf Okinawa findet sich in Gemeinden, deren Archive im Zweiten Weltkrieg abgebrannt sind. Die Langlebigkeitshochburgen der Erde zeichnen sich insgesamt eher durch Armut, schlechte Gesundheit und eine im Durchschnitt recht kurze Lebenserwartung aus, bei hoher Rate an fehlenden Sterbeurkunden – das spricht mehr für Rentenbetrug als für eine Methusalem-Geheimformel. Für 80 – 90 Prozent aller Höchstbetagten findet sich laut Newman überhaupt kein glaubhaftes Geburts- oder Sterbedokument. So werden aus den Blauzonen des Alterns mindestens Grauzonen.
Der Ig-Nobelpreis soll nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken anregen. Dazu eignen sich Newmans Analysen ebenfalls: „Trau, schau, wem“ gilt besonders für Daten, die vermeintlich Plausibles belegen. Hintergrundinformationen sind unerlässlich, genau wie eine unabhängige Validierung. Dazu muss man manchmal populäre Gewissheiten infrage stellen. Etwa, dass wir nur einen Pazifikstrand, gesundes Essen und eine intakte Dorfgemeinschaft bräuchten, um steinalt zu werden.
Dr. Joachim Retzbach
Redakteur Medizin