Wissenschaftskommunikation Wenn Menschen aus der Forschung angegriffen werden
Manche der Forschenden rufen an, weil sie am Tag zuvor ein Interview für die Tagesschau oder die Zeit gegeben haben. Ihr Thema war gesellschaftlich polarisierend, wie z.B. Klimawandel, Umgang mit der AfD oder Tierschutz, und das Interview wurde offensiv im Internet geteilt. Insbesondere in Gruppen, denen die vertretenen wissenschaftlichen Positionen nicht zusagen. Und dann eskaliert es: Die Reaktionen werden unüberschaubar viele und unkontrollierbar, die Anfeindungen richten sich gegen die eigene Person und plötzlich auch gegen die Familie – der Shitstorm brüllt aus voller Lunge.
„Das kann alles ganz schnell gehen. Deswegen sind wir z.B. auch am Wochenende zu erreichen“, sagt Julia Wandt, Verantwortliche für den Geschäftsbereich Wissenschaftskommunikation und Strategie im Rektorat der Uni Freiburg und Mitinitiatorin des Scicomm-Supports. Die Beratungsstelle, die vom Bundesverband Hochschulkommunikation und Wissenschaft im Dialog getragen wird, unterstützt Forschende und Wissenschaftskommunikatoren, die durch ihre wissenschaftliche Kommunikation ins Zielfeuer von unsachlichen Angriffen geraten.
Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erzählen am Telefon, dass sie schon seit Langem und immer wieder abwertende Reaktionen auf ihre Aussagen erhalten. Dass sie sich bedroht sehen durch Anrufe und E-Mails, sie bislang aber nicht wussten, an wen sie sich wenden können. Und es gibt jene Hilfesuchenden, die auch persönlich und direkt, z.B. auf Veranstaltungen, angegangen und beschimpft werden.
Angriffe gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt es wahrscheinlich, seitdem es Wissenschaft gibt. Einige Angegriffene tragen große Namen, etwa Giordano Bruno oder Galileo Galilei. Auch in der neueren Zeit werden z.B. schon seit Jahrzehnten immer wieder Forschende, die mit Tieren arbeiten, angegriffen. Doch speziell in den letzten Jahren sind die Angriffe noch mal mehr geworden.
Daran ist auch die Verbreitung von Wut und Hass in der Gesellschaft mitverantwortlich. Aber die Scicomm-Support-Beraterin möchte noch einen anderen Punkt betonen: „Es gibt heute mehr Wissenschaftler, für die selbstverständlich ist, mit ihren Inhalten zum demokratischen Diskurs beizutragen. Das ist das Positive in dieser Entwickung“, sagt Wandt. Es macht die Situation allerdings nicht erträglicher: Eine internationale Umfrage unter (auch deutschen) Forschenden, die sich im Zuge der Pandemie öffentlich geäußert hatten, ergab 2021, dass über 80 % von ihnen persönlichen Angriffen oder Troll-Kommentaren ausgesetzt waren. 22 % der Befragten haben Androhungen von Gewalt erfahren, auch Morddrohungen. Besonders besorgniserregend: 60 % sagten, ihre Bereitschaft, in Zukunft mit den Medien zu sprechen, sei durch Trolle und persönliche Angriffe gesunken.
Wer fürchtet, Opfer zu werden, hält sich lieber bedeckt
Eine Untersuchung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf von 2023 bestätigt die Tendenz. Zwei Drittel der über 8.000 befragten Forschenden aller Fachrichtungen hielten öffentliche Anfeindungen für eine ernsthafte Bedrohung der Wissenschaft. Auch hier: Gefragt nach ihrer Absicht, sich in absehbarer Zukunft öffentlich zum eigenen Fach zu äußern, winkte knapp die Hälfte der Befragten ab. Je mehr jemand fürchtete, selbst Opfer von Anfeindungen zu werden, desto kleiner war die Bereitschaft, sich medial zu äußern.
Auch die ersten Erfahrungen von Scicomm-Support bestätigen die Entwicklung. Es laufen viele Anfragen ein, oft mehrere pro Tag. Da es die Einrichtung erst seit Juli 2023 gibt, rede man bislang nur über Tendenzen, betont Wandt. Eine der interessanten Beobachtungen sei etwa, dass man Angriffe und Konflikte auf allen Ebenen berichtet bekomme. „Wir sehen keinen Schwerpunkt auf Social Media, wie man denken könnte. Es geht genauso oft um Angriffe in der Öffentlicheit, Drohanrufe oder E-Mails.“ Jetzt will man weiter beobachten: Treten die Bedrohungen tatsächlich analog genauso wie virtuell auf? Medizin, Geistes-, Natur- und Wirtschaftswissenschaften – welche Fachrichtungen geraten häufiger in den Fokus?
Sicher ist: „Die Anlaufstelle wird sehr gut angenommen“, so Wandt. Das heiße einmal, das man den richtigen Ansatz habe. Aber es bedeute eben auch, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Unterstützung und eine unabhängige Beratungsinstitution brauchen.
„Medizin ist dabei ein ganz wichtiges Thema. Weil man mit medizinischen Themen viele Ängste schüren kann“, sagt Wandt. Im Leitfaden hat die Organisation Ratschläge gesammelt für angegriffene Forschende. Vieles darin ist übertragbar auf den gesamten medizinischen Sektor: Die Einschätzung, woher ein Angriff kommt, wie gravierend er ist und welche Möglichkeiten sich empfehlen, darauf zu reagieren, lässt sich genauso auf Ärztinnen und Ärzte übertragen, die mit Anfeindungen konfrontiert sind, sagt Gian-Andri Casutt, Leiter der Kommunikation des Eidgenössischen Rates der Technischen Hochschulen in der Schweiz.
Er ist einer jener 30 Scicomm-Support-Beratenden, die wochenweise jeweils zu zweit das Beratungstelefon betreuen, 365 Tage im Jahr, jeden Tag von 7 bis 22 Uhr. Er, wie alle seine Kolleginnen und Kollegen, die sich hier engagieren, können auf langjährige Erfahrungen in der Kommunikation und im Umgang mit Krisensituationen zurückgreifen.
Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, wurden die Beratenden außerdem geschult, u.a. von Hate Aid, einer Einrichtung, die bei Übergriffen im Netz berät. Gesprächsleitfäden und regelmäßiger Austausch sowie Schulungen sind selbstverständlich. „Die Verantwortung der Beratenden ist groß. Solche Vorfälle können eine entscheidende Bedeutung für das Leben der Betroffenen haben“, sagt Wandt.
Manchmal ist Gegensteuern am Anfang noch möglich
In der Beratung kommt es immer auf die subjektive Bewertung der betroffenen Person an. „Wir würden niemals sagen, ach, das ist ja nicht so schlimm.“ Im Gegenteil: Die Unterstützung soll nicht erst im Worst Case zum Tragen kommen. Manche Betroffenen finden im Leitfaden alles, was sie für den Moment brauchen – andere lassen sich auch bei kleineren Vorfällen beraten. „Wir motivieren, sich früh bei uns zu melden, wenn sich das Problem abzeichnet. Manchmal kann man dann noch Strategien entwickeln, um Schlimmeres zu verhindern.“
Wie man Angriffe auf Social Media dokumentiert
Zeichnet sich ab, dass eine Social-Media-Diskussion sich zu einem Vorfall entwickeln kann, sollte man beginnen zu dokumentieren – sowohl mit Blick auf Beratung als auch für eine mögliche Anzeige oder einen Strafantrag. Dazu müssen u.a. rechtssichere Screenshots der betreffenden Postings hergestellt werden. Darüber hinaus sollten, wenn möglich, auch der Kontext der Situation und die dazugehörigen Kommentare sichergestellt werden. Rechtssichere Screenshots sollten mindestens folgende Information beinhalten:
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Das Original-Posting und der betreffende Kommentar sind lesbar.
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Datum und Uhrzeit von den Postings und vom Screenshot sind notiert.
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Die betreffende Plattform ist auf dem Screenshot erkennbar.
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Es gibt einen Screenshot vom Profil der verursachenden Person mit erkennbarer direkter URL.
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Posts, Namen und Bilder außenstehender Personen sind zu deren Schutz unkenntlich zu machen.
Mehr dazu: scicomm-support.de
Kann der Fall nicht mehr gebremst werden, laufen viele der Angriffe in den justiziablen Bereich, als Bedrohung oder Nötigung. „Wenn wir merken, wir brauchen juristischen Rat, holen wir den dazu.“ Die beratende Person aus der Kommunikation begleitet den Fall durchgehend: Alles, was in der Kommunikation läuft, kann Einfluss auf das Rechtliche haben und umgekehrt.
Wichtig sei natürlich auch der psychologische Aspekt. Die Betroffenen sollen sich nicht allein fühlen. Häufig habe das Gespräch selbst schon eine Beruhigungs- und Einbettungsfunktion. Muss jemand psychologisch begleitet werden, werden enstprechende Kontakte hergestellt.
Partner der Beratungsstelle ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Hochschulrektorenkonferenz, unterstützt wird sie von der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen, der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin, der Initiative Toleranz im Netz, der Opferberatung Rheinland und der Initiative Stark im Amt. Weitere Stellen, die in entsprechenden Fällen mit Fachexpertise unterstützen, sind das Landeskriminalamt Baden-Württemberg und eine spezialisierte Medienkanzlei.
Wissenschaftskommunikation gehört zur Demokratie
Und was motiviert und rechtfertigt dieses große Engagement? „Es ist ein wesentlicher Teil demokratischer Prozesse, dass öffentlich über Methoden, Ergebnisse – und auch Zwischenergebnisse – der Wissenschaft gesprochen wird“, erklärt Wandt. Als Wissenschaftler trifft man keine politischen Entscheidungen. Aber jeder Meinungsbildungsprozess brauche Informationen, die die Öffentlichkeit verstehen lassen, was im demokratischen Prozess verhandelt wird. „Wir stützen, indem wir die Kommunikation möglich machen, die Grundwerte der Demokratie“, so Wandt.
Genau deswegen versuchen gesellschaftliche Strömungen ja auch immer wieder, Einfluss auf die Kommunikation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu nehmen. Schlimmstenfalls mit dem Ziel, Personen, die zu bestimmten Themen oder mit bestimmten Ansätzn arbeiten, verstummen zu lassen. „Wichtig ist, zu erkennen: Oft scheint es nur, als wären diese Angriffe auf die Person bezogen. Die Personen sind aber häufig nur die Projektionsfläche.“
Medical-Tribune-Bericht