Praxiskolumne Wie lange lassen wir uns noch in die Enge treiben?
Aber in der Medizin erlebe ich es live. Ich bin seit 2006 approbiert. Und noch nie habe ich so eine rapide Verschlechterung und Unruhe im System mitbekommen.
Vielleicht habe ich es vorher nur nicht bemerkt? Ich weiß es nicht. Ich höre es aber auch von Kolleginnen und Kollegen: Es ist jedes Jahr schlimmer geworden mit der Belastung. Mehr Patientinnen und Patienten, mehr Vorschriften und Bürokratie, mehr Zusatzaufgaben. Dazu eine Digitalisierung, die eher die Abläufe behindert als erleichtert. Weniger Personal, höhere Kosten, keine adäquate Entlohnungssteigerung.
Krankenhäuser, die überlastet sind und Patientinnen und Patienten „blutig“ entlassen – mit Drehtüreffekt. Facharzttermine sind Mangelware und dürfen als Fleißaufgabe von uns Hausärztinnen und -ärzten vereinbart werden.
Wer regelt das alles eigentlich im GKV-System? „Wir“ selbst! Wir zahlen schließlich brav 3,5 % unserer Umsätze an einen Verwaltungsapparat, der uns die Arbeit erleichtern sollte. Fristen, die wir einhalten müssen. Regeln, die wir kennen müssen. Regresse. Und was haben wir davon? Den „Sicherstellungsauftrag“. Das zieht bei uns allen – wir mit unserem Helferkomplex.
Zunehmend sind wir wirtschaftlich abhängig von den Privatpatientinnen und -patienten sowie prinzipiell auch von Individuellen Gesundheitsleistungen. Doch IGeL mag kaum jemand verkaufen. Und die moralische Keule aufgrund der Differenzierung zwischen PKV und GKV wird derzeit noch heftiger als eh schon geschwungen. Ausgerechnet vom Bundesgesundheitsminister, der Entbudgetierung versprach, aber nicht lieferte.
Ist es in der aktuellen Situation, in der privat Krankenversicherte die budgetierte GKV-Versorgung massiv querfinanzieren, hilfreich, die PKV zu skandalisieren? Nein. Denn was wird uns erwarten: der Traum einer sinnvollen, leitliniengerechten, unbürokratischen, präventionsorientierten und individuellen Medizin– für alle und auf Top-Niveau? Wer daran glaubt, hat noch nicht verstanden, dass es der Politik und der Gesellschaft nicht wert ist, adäquat in dieses System zu investieren.
Das Ergebnis von Bürgerversicherungen in Systemen, die sich selbst tragen sollen, sieht man in anderen Ländern. Dort blühen private Zusatzversicherungen und immer mehr Ärztinnen und Ärzte verlassen aufgrund der Niveau-Nivellierung das System. Im Endeffekt hat man eine schlechtere Grundversorgung und den Zwang, sich zusätzlich privat zu versichern.
Solange wir das System nicht grundlegend ändern, bleiben wir in der Abwärtsspirale. Und das nicht nur in Deutschland. In Oregon in den USA steht der erste Ärztestreik an. Gleiches Spiel: Zu viel Nicht-Medizinisches, Bürokratie, Vorgaben fachfremder Personen und Institute, die Medizinerinnen und Mediziner gängeln, immer mehr Druck im System. Oder die Kolleginnen und Kollegen in Südkorea, die 2024 massiv gestreikt haben aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen, die Medizinerinnen und Mediziner in andere Bereiche vertrieben.
Inzwischen bleibt das Gefühl des „Übernahmeverschuldens“: Weniger Zeit für immer mehr Patientinnen und Patienten bei zunehmenden rechtlichen Verpflichtungen bergen zusätzliche Risiken für mich – aber auch für die Patientinnen und Patienten. Wie lange lassen wir uns noch in die Enge treiben – wirtschaftlich wie moralisch? (Ja, der Staat hat uns die Ausbildung bezahlt – aber wir haben das längst dreifach zurückgezahlt.)
Deutschland hatte eine fantastische medizinische Versorgung. Ich denke, es liegt an uns selbst, dafür zu sorgen, dass wir dieses Niveau wieder flächendeckend erreichen. Von der Politik und den regelnden Organisationen haben wir diesbezüglich jedoch wenig zu erwarten. Ich hoffe dennoch, dass wir 2025 gemeinsam mehr im Sinne einer guten Medizin agieren.