Rechtsruck Wie tief könnte eine Regierung mit AfD-Beteiligung in die Versorgung eingreifen?

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Bislang schließen die Bundestagsparteien eine Koalition mit der AfD aus. Ob sie dabei bleiben, ist abzuwarten. Bislang schließen die Bundestagsparteien eine Koalition mit der AfD aus. Ob sie dabei bleiben, ist abzuwarten. © Stockhausen – stock.adobe.com

Für die kommenden Landtagswahlen und die Bundestagswahl 2025 wird ein Rechtsruck befürchtet. Auf berufspolitischen Veranstaltungen schwingt immer wieder die Frage mit: Was wäre, wenn sich die Machtverhältnisse zugunsten der AfD verschieben sollten? Und wie offen oder ablehnend steht die Ärzteschaft der Partei gegenüber? 

Angesichts der hohen Zustimmungswerte, die die AfD bei Wahlumfragen erntet, wird immer ernster erkundet, welchen Einfluss die extrem rechte Partei bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen auf die Gesundheitsversorgung nehmen könnte. Auch wenn die AfD es bislang nicht offiziell formuliert, besteht mit Blick auf ihre immer wieder diskriminierende Rhetorik die Sorge, dass sie etwa die Versorgung von Minderheiten einschränken oder sich gegen Fachkräfte mit Migrationshintergrund wenden könnte. In ihren öffentlichen Programmpunkten sucht die Partei derweil Anschluss an die Interessen der Ärzteschaft. 

Schutz durch Fragmentierung, Föderalismus und Verfassung 

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld hält eine schnelle Änderung von Versorgungsstrukturen auf Bundesebene für „sehr voraussetzungsreich“, wenn auch nicht für unmöglich. Die AfD bräuchte, selbst wenn sie stärkste Kraft bei einer Bundestagswahl würde, wahrscheinlich einen Koalitionspartner, gibt er zu bedenken. Nur Konrad Adenauer konnte 1957–61 einmal ohne Koalition regieren, seitdem hat sich das Parteiensystem weiter zersplittert. Bislang behaupten die anderen Bundestagsparteien, nicht mit der AfD koalieren zu wollen. Ob sie dabei bleiben, ist abzuwarten.

Falls die AfD eine Koalition bilden könnte, hinge es von der Durchsetzungskraft des Partners ab, ob sie Versorgungsstrukturen gesetzlich ändern könnte. Gegen Bundesgesetze kann zudem der Bundesrat Widerstand leisten, falls sie zustimmungspflichtig sind. Beispielsweise gehe bei Eingriffen in die Kliniklandschaft nichts ohne die Länderkammer, erinnert der Experte. Gleichzeitig ist in Ostdeutschland mit einem starken Abschneiden der AfD bei den kommenden Landtagswahlen zu rechnen. 

AfD ist gesundheitspolitisch vage, professionalisiert sich aber 

Selbst wenn Bundestag und Bundesrat sich auf eine menschenverachtende Maßnahme einigen würden, bleibe diese verfassungswidrig, betont der Politikwissenschaftler. Das Bundesverfassungsgericht könnte das Gesetz wieder kassieren – vorausgesetzt natürlich, dass diese Institution vor dem Einfluss rechtsextremer Kräfte geschützt wäre. Prof. Gerlinger hält es für sinnvoll, dass die Ampelfraktionen und die Union sich offenbar darauf geeinigt haben, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts stärker im Grundgesetz zu verankern. 

Nicht verfassungsrechtlich geschützt ist auch die Organisation des Gesundheitssystems als Krankenversicherungssystem, schränkt Prof. Gerlinger ein. Rein theoretisch sei es denkbar, dass eine Regierung Krankenkassen und die anderen Institutionen der Selbstverwaltung abschafft und stattdessen ein Gesundheitssystem mit ganz anderen Organisationsstrukturen errichtet. „Das wäre aber ein grundlegender Bruch mit einem tief verankerten System.“ Er bezweifelt, dass sich dafür Mehrheiten finden würden. 

Grundsätzlich hält Prof. Gerlinger das gesundheitspolitische Programm der AfD für äußerst vage. „Ich habe den Eindruck, dass sie gar nicht die Expertise hat, um zu Detailfragen Stellung zu nehmen.“ Dies scheint sich aber langsam zu ändern. Im Gesundheitsausschuss stelle sie teils sehr treffende Fragen und Forderungen, hört man in berufspolitischen Kreisen. Es sei schwer, damit umzugehen. Selbst wenn die AfD aber bei einigen Themen noch nicht gerüstet sei, mache sie das nicht weniger gefährlich, so Prof. Gerlinger – ihre Strategie sei ohnehin eine andere. 

Die Strategie: Ressentiments schüren, auf Protest aufspringen

Für eine Partei, die sich aus Populismus speist, seien spezialisierte gesundheitspolitische Fragen nur dann attraktiv, wenn sich über sie Protest mobilisieren lasse, erklärt der Politikwissenschaftler. Das trete etwa ein, wenn die Versicherungsbeiträge steigen oder wenn der Zugang zur Versorgung schwieriger wird, etwa durch größere Entfernungen oder längere Wartezeiten. Auch der berufspolitische Protest der Ärzteschaft sei für die AfD interessant, warnt der Experte. Immer wieder versuche sie, ihn auf ihre Mühlen zu lenken. Die Partei greift etwa populistisch Forderungen nach einer umfassenden Entbudgetierung auf, ohne dabei aber Konzepte zur Finanzierung zu liefern.  

Tatsächlich ist zu beobachten, dass die AfD schon jetzt im gesundheitspolitischen Diskurs präsenter geworden ist. Zum einen, weil politische Akteure ihre populistische Argumentation wiederholen. Man denke etwa an Friedrich Merz’ Äußerung, Asylsuchende würden Zahnarzttermine blockieren. Zum anderen auch, weil berufspolitischer Protest zuletzt daran gemessen wurde, ob er nicht unfreiwillig AfD-Narrative bediene. Ebendies unterstellte Prof. Dr. Karl Lauterbach der Deutschen Krankenhausgesellschaft, als sie mittels einer zugespitzten Plakatkampagne die Klinikreform kritisierte, z.B. mit der Phrase „Wenn Lauterbach so weitermacht, gibt’s hier bald keinen Nachwuchs mehr.“ Abgebildet ist ein Baby.

Besonders oft wiegeln rechtspopulistische Akteure auf, indem sie gegen Minderheiten wettern. So verweise die AfD auf die Kosten der medizinischen Versorgung Asylsuchender, erklärt Prof. Gerlinger. Wenn es um Gruppen gehe, denen ohnehin Ressentiments entgegengebracht werden, sei die Gefahr größer, dass diskriminierende politische Maßnahmen umgesetzt werden. Denn diese finden teils gesellschaftlichen Rückhalt. Ein aktuelles Beispiel sind Diskussionen um einen schwereren Zugang zum Gesundheitssystem für Menschen, die Asyl suchen. 

Besondere Verantwortung der Ärzteschaft

In gesellschaftlichen Debatten rund um gesundheitspolitische Themen haben Ärztinnen und Ärzte ein besonderes Gewicht, beobachtet Prof. Gerlinger. „Sie haben einen sehr hohen Einfluss auf die öffentliche Meinung.“ Die öffentliche Meinung wiederum beeinflusse die Wahlentscheidung der Menschen. 

Auch den direkten Einfluss der Ärzteverbände auf Pläne der Gesundheitspolitik hält der Experte für hoch, insbesondere den der Niedergelassenen. Sie reagierten besonders sensibel auf Umstrukturierungen im Gesundheitssystem, meint er. Die standespolitischen Gremien könnten daher als Schutzmechanismus funktionieren, wenn eine Regierung diskriminierende Maßnahmen umsetzen wollte. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Standesvertreter sich selbst demokratischen Prinzipien und der Gleichbehandlung aller Menschen verpflichtet fühlen. 

Diese Bedingung scheint erfüllt: Berufsverbände, Fachgesellschaften, KVen und Kammern positionieren sich derzeit lautstark für Vielfalt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Marburger Bund beschloss auf seiner Hauptversammlung mit Blick auf die AfD kürzlich sogar eine Unvereinbarkeitsklausel: Wer Mitglied in einer Partei ist, die „menschenverachtende, rassistisch-xenophobe Positionen“ vertritt, kann nicht Mitglied der Gewerkschaft sein. Gleichzeitig berichten maßgebliche Standesvertreter jedoch, dass ein gewisser Teil des Berufsstands sich zur AfD hingezogen fühle. Auch in den Gremien seien entsprechende Personen bereits vertreten.

Standesorganisationen ziehen Vergleich zu 1933

Die Organe der Selbstverwaltung betonen ihre besondere historische Verantwortung. Bei der letzten Vertreterversammlung der KBV Anfang Mai erinnerte Dr. Petra Reis-Berkowicz, die Vorsitzende der Versammlung, explizit daran, dass die Körperschaft Rechtsnachfolgerin der nationalsozialistischen „Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands“ ist. Für die Europawahl hat die KBV eigens ein Positionspapier verfasst.  Es sei „brandaktuell“, mit klaren Haltungen für Demokratie und Vielfalt in den Diskurs einzubringen. 

Der Vergleich, der dabei mitschwingt:1933 tat die organisierte Ärzteschaft das Gegenteil: Wenige Wochen nach der Machtübergabe an die NSDAP schaltete sie sich bereitwillig selbst gleich, erinnert Dr. Ulrich Prehn. Er ist Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und arbeitet die NS-Vergangenheit der KBV auf. Heute seien Kammern und KVen demokratischer organisiert, die Befugnisse der Vorsitzenden eingeschränkt. Ob dies jedoch reiche, hänge davon ab, ob Ärztinnen und Ärzte resistent seien gegen rechtsextreme Propaganda. Denn einige der Parolen, die während Weimarer Republik und NS-Zeit in der Bevölkerung verfingen, seien heute wieder anschlussfähig. Etwa politisch motivierte Kosten-Nutzen-Rechnungen in Bezug auf psychisch kranke oder behinderte Menschen.

Die Frage, wie solche Rechnungen zu NS-Medizinverbrechen beitrugen und was für heute daraus folgt, thematisiert eine Lancet-Kommission in ihrem Bericht (Fortsetzung folgt).