Verein ACHSE Zu selten wird an die Seltenen gedacht

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Die bunte Awareness-Schleife weist auf den Tag der Seltenen Erkrankungen, 29. Februar 2024, hin. Die bunte Awareness-Schleife weist auf den Tag der Seltenen Erkrankungen, 29. Februar 2024, hin. © Sk Elena – stock.adobe.com

Seltene Erkrankungen haben durch TV-Serien wie Dr. House oder Bergdoktor Aufmerksamkeit erlangt. In der Praxis dauert es jedoch oft Jahre bis zur Diagnose. Die Ärztin Dr. Christine Mundlos ist stellvertretende Geschäftsführerin des Vereins ACHSE und engagiert sich als Lotsin für Mediziner und Therapeuten. Sie benennt die Probleme.

Womit beschäftigt sich die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, kurz ACHSE? 

Im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe wurde Ende der 1990er eine Arbeitsgruppe zum Thema chronische seltene Erkrankungen gegründet. Aus dieser ist der Verein ACHSE entstanden. Wir sind die Dachorganisation von über 130 Patienten-Selbsthilfeorganisationen in Deutschland, die sich alle einer oder mehreren seltenen Erkrankungen widmen. Wir als ACHSE haben die übergreifenden Themen, die alle Betroffenen mit seltenen Erkrankungen berühren, im Fokus. In unserer Betroffenen- und Angehörigenberatung erfahren wir dazu von konkreten Versorgungproblemen. Das Wissen spiegeln wir in die Politik, Wissenschaft, Medizin und Öffentlichkeit. Die ACHSE-Beratung ist bundesweit die einzige krankheitsübergreifende Anlaufstelle für Menschen mit seltenen Erkrankungen. 

Wie viele Menschen sind von seltenen Erkrankungen betroffen?

In Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen von einer der ca. 8.000 Erkrankungen betroffen. Die Zahl wächst jedoch weiter, weil sich die Diagnostik stetig verbessert. Wir gehen davon aus, dass etwa 80 % der seltenen Erkrankungen eine genetische Ursache haben. Die Fortschritte insbesondere in der genetischen Dia­gnostik ermöglichen es, früher die richtige Diagnose zu stellen.

Wie gut kennen Ärztinnen und Ärzte die Problematik inzwischen? 

Das Thema seltene Erkrankung erfährt mittlerweile mehr Aufmerksamkeit, weil es in vielfältiger Weise in den Medien aufgegriffen wird. Und auch, weil in den letzten Jahren fast an jeder Uniklinik in Deutschland ein Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) entstanden ist. Auch die Aktivitäten der ACHSE, unserer Mitgliedsorganisationen und unserer europäischen Dachorganisation EURORDIS tragen zu mehr Beachtung bei. Aber wir müssen uns natürlich schon im Klaren sein, im Alltag der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte spielt das, was häufig zu behandeln ist, die Hauptrolle. Und so passiert es, dass Patientinnen und Patienten mit komplexen Symptomen durchrutschen, weil sie sich mit ihren Symptomen nicht gut einordnen lassen. Wir müssen es schaffen, mit niederschwelligen Angeboten die Primärversorger auf die Problematik der seltenen Erkrankungen aufmerksam zu machen und den Weg zu den passenden Expertinnen und Experten aufzuzeigen.

Patienten suchen sicher auch  selbst Ansprechpartner, wenn sie eine seltene Erkrankung vermuten?

Die Digitalisierung erleichtert es Betroffenen, selbst auf die Suche zu gehen, sich zu informieren und sich für ihre Versorgung einzusetzen. Das Internet ist da segensreich. Viele Patientinnen und Patienten wenden sich auch selbst an ein Zentrum für Seltene Erkrankungen. Oder sie kontaktieren die ACHSE-Beratung. Die Eltern betroffener Kinder und betroffene Erwachsene haben einen hohen Leidensdruck, sie lassen eben nicht locker, wenn ihre Krankheitssymptome noch nicht abgeklärt sind.

Fakten zu Orphan Diseases

  • Eine Erkrankung gilt nach Definition der Europäischen Union dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind.

  • Weltweit sind bislang rund 7.000 seltene Erkrankungen bekannt.

  • 3,5 bis 5,9 % der Weltbevölkerung (rund 400 Millionen Menschen) leiden an einer seltenen Erkrankung, die Hälfte davon sind Kinder.

  • Die Organisation EURORDIS schätzt, dass innerhalb der Europäischen Union 4,8 % der Bevölkerung von einer seltenen Erkrankung betroffen sind, ca. 36 Millionen Menschen.

  • In Deutschland leben ca. 4 Millionen Betroffene.

  • Die Zahl der verfügbaren Arzneimittel hat zugenommen, dennoch gibt es weltweit für über 90 % der bekannten seltenen Erkrankungen keine zugelassene Behandlung.

Quelle: Selbsthilfenetzwerk ACHSE e.V.

Wie wenden sich Patienten an ein ZSE?

Die Zentren haben Kontaktdaten auf ihren Webseiten und ärztliche oder nicht-ärztliche Lotsen, die Anfragen entgegennehmen. In der Regel muss ein umfangreicher Fragebogen ausgefüllt und es müssen relevante Dokumente eingereicht werden. Es ist deshalb hilfreich, wenn ein Mediziner den Kontakt zum Zentrum unterstützt. Im Zentrum wird dann anhand der vorliegenden Befunde entschieden, ob der Patient bzw. die Patientin zur weiteren Abklärung einer Verdachtsdiagnose direkt in eine spezialisierte Abteilung geleitet wird oder ob es einer interdisziplinären Fallkonferenz bedarf, um unklare Symptome einzuordnen und darauf aufbauend eine zielführende Diagnostik einzuleiten. 

Wie lange dauert es bei seltenen Erkrankungen bis zur Diagnose?

Das ist unterschiedlich. Fünf Jahre sind es im Schnitt. Das ist viel zu lang. Mir wurde kürzlich von einer Patientin berichtet, die erst mit 63 die richtige Diagnose durch eine Ganzgenomsequenzierung erhielt. Bei einem bekannten Gastronomen in Berlin wurde erst im Alter von 50 Jahren anlässlich einer Nierentransplantation die Diagnose einer seltenen Stoffwechselerkrankung gestellt. Beide Patienten haben somit über Jahre nicht die richtigen Therapien bekommen. Wir hoffen inständig, dass wir durch die vielen Maßnahmen in den letzten Jahren den Diagnoseweg verkürzen können. Dazu ist es auch erforderlich, strukturierte Patientenpfade in der Versorgung zu entwickeln. 

Die Aktionen am 29. Februar, dem Tag der Seltenen Erkrankungen, tragen sicherlich auch zu mehr Aufmerksamkeit bei. 

Dieser Tag dient dazu, weltweit Aufmerksamkeit zu erlangen. Es ist ein von den Patienten ins Leben gerufener internationaler Tag, der jedes Jahr begangen wird. In Deutschland gibt es viele bunte Veranstaltungen, wo sich Zentren und Patientenorganisationen vorstellen. Wir sind mit einer Ausstellung, Selbstportraits und Steckbriefen von Betroffenen am Berliner Hauptbahnhof präsent. Bundesweit werden Einkaufsbahnhöfe als Ausstellungsorte genutzt.

Der Pharmaindustrie wird oft unterstellt, wenig Interesse an Therapien für seltene Erkrankungen zu haben, weil sie sich nicht rechnen.

Kleine Patientenzahlen machen klinische Studien natürlich schwierig, auch entstehen hohe Entwicklungskosten. Andererseits ist zu sehen, welche Preise aktuell für innovative Therapien, etwa Gentherapien, aufgerufen werden. Es lässt sich also durchaus Geld mit Seltenen Erkrankungen verdienen. Wie nachhaltig der Nutzen neuer Therapien im Verhältnis zu den Kosten ist und ob sich die Hoffnungen, die man in die neuen Therapien gesetzt hat, auf Dauer bestätigen, bleibt zu abzuwarten. Für viele der neuen Therapien gibt es bisher nicht genügend Daten, da noch nicht genügend Patientinnen und Patienten behandelt wurden. 

Ist die Finanzierung durch die Krankenkassen gesichert, wenn Patienten in ZSE gehen? 

Es gibt in der Zwischenzeit Zuschläge, um die Durchführung der erforderlichen koordinierenden Aufgaben an den Zentren zu sichern. Allerdings muss dafür die jeweilige Klinik in den Landeskrankenhausplan des zugehörigen Bundeslandes aufgenommen sein. Es profitieren noch nicht alle Zentren von diesen Zuschlägen. Die Kosten für die eigentliche Versorgung der Patienten tragen die Krankenkassen. Für den strukturierten Patientenpfad innerhalb eines ZSE wurden mit vielen Krankenkassen Selektivverträge vereinbart, die z.B. auch eine bestimmte genetische Diagnostik, die Exomsequenzierung, abdecken. Ab Frühjahr 2024 wird dies in einem vom Bundesministerium für Gesundheit verantworteten Modelversuch für bestimmte Krebspatienten und für Patientinnen und Patienten mit dem Verdacht auf eine seltene Erkrankunge noch um die Möglichkeit einer Ganzgenomsequenzierung erweitert. Deutschland ist ein Vorreiter, dies in der Regelversorgung für Patientinnen und Patienten anzubieten. 

Für uns auf der Patientenseite ist es wichtig zu betonen, dass die spezialisierte Versorgung an Zentren nur einen Teil der Unterstützung für die Betroffenen darstellt. Das Leben mit der Erkrankung im Alltag ist die größere Herausforderung. Der Mehraufwand zur Versorgung dieser Patientinnen und Patienten wird nicht in den Budgets der Niedergelassenen abgebildet. Damit sich Patientinnen und Patienten im Dschungel unseres Gesundheitssystems durchfinden, um krankheitsbedingte Bedarfe geltend zu machen, bräuchte es einen Case Manager. Den fordern wir als Dachorganisation.  

Welche Aufgaben haben Sie als ACHSE-Lotsin? 

Letztes Jahr gab es in der ACHSE-Beratung 1.500 Kontakte, darunter auch Mehrfachkontakte. Etwa 10 % der Kontakte betreffen Forschende bzw. Ärztinnen und Ärzte. Kolleginnen und Kollegen fragen mit Einwilligung der Patienten bei Unklarheiten an und senden ggf. Unterlagen an mich zur Durchsicht. Ich versuche dann über meine Vernetzung geeignete Expertinnen und Experten zu finden, bin also eine lebendige Schnittstelle. Ich sehe selbst keine Patienten, ich biete keine Sprechstunde an, stelle keine Diagnose und spreche auch keine Therapieempfehlung aus. 

Wer wendet sich vorwiegend an Sie – Hausärztinnen und Hausärzte oder Spezialisten? 

Beide Seiten. Die Anfragen kommen aus dem niedergelassenen Bereich und auch aus Kliniken. Ich habe über Jahre immer mal wieder einen Hausarzt aus dem Süddeutschen unterstützt und dabei nicht nur meine Vernetzung hinsichtlich seltener Erkrankungen, sondern auch der Versorgung von häufigen Erkrankungen genutzt. Ratsuchende, die gute Erfahrung mit unserer Beratung machen, sind wichtige Multiplikatoren für unser Anliegen. Wir bekommen als gemeinnütziger Verein keinerlei institutionelle Förderung, sondern finanzieren uns über Projekte und Spenden. Wenn jemand im Nachhinein sagt: „Da ist mir geholfen worden“, und uns eine Spende zukommen lässt, dann bestärkt uns das nicht nur in unserer Arbeit, sondern hilft auch, den Laden am Laufen zu halten.    

Interview: Cornelia Kolbeck