Dachverband ACHSE kritisiert unzureichende Versorgung bei seltenen Erkankungen
Es gibt eine beschleunigte Zulassung von Orphan Drugs in der EU und Erleichterungen bei der frühen Nutzenbewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Spüren das die Betroffenen?
Miriam Mann: Die von Ihnen genannte Entwicklung ist sicherlich positiv zu bewerten. Letzten Endes stehen jedoch den geschätzten 8000 seltenen Erkrankungen zurzeit nur etwa 150 Medikamente in Deutschland gegenüber. Somit gibt es noch immer viel zu wenige Behandlungsmöglichkeiten.
Wie bewerten Sie die im GSAV verankerten Anpassungen bei der Nutzenbewertung?
Miriam Mann: Wir unterstützen es, dass nach Zulassung eines Arzneimittels weitere Daten zum Wirken und Nutzen eines Arzneimittels erhoben werden. Auch dass dies Konsequenzen für die Preisgestaltung haben kann. Die Daten sollten jedoch auf europäischer Ebene gesammelt werden. Betroffene brauchen eine nachhaltige Erhebung von allen relevanten Versorgungsdaten für die Erforschung einer Erkrankung. Der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses hat angekündigt, bei den Auflagen, wenn möglich, die Dokumentation in internationalen Registern zu verlangen. Dies verringert unsere Sorgen etwas, dass die Umsetzung des GSAV den bisher sehr guten Zugang zu den wenigen verfügbaren Arzneimitteln gefährdet, weil Firmen europaweit verschiedene Registerauflagen erfüllen müssen.
Oft dauert es lange bis zur Diagnose einer seltenen Erkrankung. Gibt es hier inzwischen Verbesserungen oder sprechen wir noch immer von den „Waisen der Medizin“?
Miriam Mann: Nichts weist darauf hin, dass sich der Weg zur Diagnose seit den letzten Erhebungen verkürzt hat. Es dauert im Schnitt fünf bis sieben Jahre bis zu einer richtigen Diagnose. Immer wieder schildern Betroffene der ACHSE-Beratung ihren Leidensweg: Wie sie von einer Klinik zur nächsten tingeln, weite Wege und wiederholte Untersuchungen in Kauf nehmen, bei denen immer wieder die gleichen Daten erfasst werden. Gerade hier sind die spezialisierten, qualitätsgeprüften Zentren mit ihrer Lotsenstruktur, wie sie im Nationalen Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen vorgesehen sind, unabdingbar. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass Betroffene frühzeitig von Errungenschaften in der medizinischen Diagnostik profitieren, z.B. Zugang zu den modernen genetischen Untersuchungsmethoden erhalten. Neben der zeitnahen Diagnosestellung benötigen Betroffene auch die richtige Behandlung ihrer, bei seltenen Erkrankungen ja oft vielfältigen und komplexen Symptome. Problematisch ist zudem, dass das wenige Wissen oft nur bei einzelnen Spezialisten liegt, der Zugang zu qualitätsgeprüften Informationen schwierig ist – für Betroffene, Ärzte, Therapeuten und Pflegepersonal. Das verzögert die Diagnosestellung ungemein.
Bis zu 30 Jahre auf eine Diagnose warten
- Patienten, deren Erkrankung noch nicht diagnostiziert wurde, weil sie noch nicht an den relevanten Arzt überwiesen wurden, da ihre Symptome häufig bzw. irreführend sind oder ein ungewöhnliches klinisches Erscheinungsbild einer bekannten seltenen Erkrankung haben.
- eine Erkrankung, für die es noch keine Tests zur Diagnosestellung gibt, die Erkrankung wurde noch nicht charakterisiert bzw. ihre Ursache noch nicht identifiziert. Fehldiagnosen sind möglich, wenn die Erkrankung als eine andere wahrgenommen wird.
Wie steht es um die Versorgung in Kompetenzzentren?
Miriam Mann: Wir begrüßen es sehr, dass sich mittlerweile etwa 35 Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland etabliert bzw. neu gegründet haben – leider noch immer ohne Zertifizierung. Schon lange fordert die ACHSE eine flächendeckende vernetzte Zentrenstruktur und dafür eine nachhaltige Finanzierung, die eine kompetente, qualitativ hochwertige Versorgung der Patienten ermöglicht. Die empfohlene zertifizierte flächendeckende Zentrenstruktur ist ebenso wenig umgesetzt wie die Maßnahmenvorschläge zur Verbesserung des Patientenpfades – vom niedergelassenen Arzt ins richtige Zentrum und auch zurück. Es sollte den Behandelnden jedoch möglich sein, sich an die wenigen Experten zu wenden, welche über geeignete Techniken und Zeit verfügen, um Befunde auszutauschen oder um in Fallkonferenzen mit Kollegen, zum Beispiel auch im Ausland, zu diskutieren. Außerdem sollten die Europäischen Referenznetzwerke, die 2017 ihre Arbeit aufgenommen haben, endlich an nationale Strukturen gekoppelt werden.Die Bundesregierung betont ihrerseits, dass mit dem Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen beim Aktionsplan viel erreicht worden ist.
Miriam Mann: Der Nationale Aktionsplan ist sicher als Meilenstein zu sehen. Schon der Prozess seiner Entstehung von 2010–2013 und die anschließende Veröffentlichung brachten eine positive Entwicklung ins Rollen. Auch die Tatsache, dass das Nationale Aktionsbündnis so viele unterschiedliche Akteure – aus Gesundheitswesen, Wissenschaft, die Patientenseite – mit unterschiedlichen Interessen für so viele Jahre zusammenbringt, um die Leben von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern, ist ein großer Erfolg. Viele Maßnahmen aus dem Nationalen Aktionsplan sind jedoch wie gesagt bis heute nicht umfassend realisiert, obwohl inzwischen sechs Jahre vergangen sind. Die Welt hat sich auch weiterentwickelt. Digitale Möglichkeiten z.B. werden oft nicht genutzt, um Wissen verfügbar zu machen oder um telemedizinische Fallkonferenzen mit verschiedenen Experten an verschiedenen Standorten durchzuführen. Es ist somit noch eine ganze Menge zu tun. Dies wird deshalb auch Thema der Nationalen Konferenz zu seltenen Erkrankungen am 26. und 27. September 2019 in Berlin sein.Interview: Cornelia Kolbeck