Benzodiazepine: Missbrauchspotenzial und Nebenwirkungen nicht unterschätzen

Dr. Andrea Wülker

Bereits eine kurzfristige Benzodiazepin-Einnahme sorgt für Defizite und beeinträchtigt das Gedächtnis bis hin zur anterograden Amnesie. Bereits eine kurzfristige Benzodiazepin-Einnahme sorgt für Defizite und beeinträchtigt das Gedächtnis bis hin zur anterograden Amnesie. © iStock/Jay Yuno

Sie beruhigen, nehmen Ängste und Verspannungen und fördern den Schlaf: Benzodiazepine sind die wichtigsten Tranquillanzien, aber auch der häufigste Grund für eine Medikamentenabhängigkeit. Innerhalb weniger Wochen kann die Einnahme zum Problem werden.

Gerade in der Akut-Psychiatrie werden Benzodiazepine breit angewendet, z.B. bei Angststörungen und Erregungszuständen im Rahmen von Psychosen, bei komorbiden Schlafstörungen oder zu Beginn einer antidepressiven Behandlung. Ihre sedierende Wirkung ist zwar bei den genannten Indikationen in der Regel erwünscht, hat allerdings auch ihren Preis. Bereits eine kurzfristige Benzodiazepin-Einnahme sorgt für Defizite und beeinträchtigt das Gedächtnis bis hin zur anterograden Amnesie, schreibt Dr. Paul Kokott, niedergelassener Allgemeinmediziner aus Salzgitter. Auch Autofahren, das Bedienen komplizierter Maschinen oder andere komplexe psychomotorische Abläufe funktionieren unter ihrem Einfluss nicht mehr reibungslos und das Risiko für Unfälle und Verletzungen steigt. Bei Senioren erhöht sich die Sturzgefahr, was oft mit Komplikationen (Schenkelhalsbrüche) verbunden ist.

Bei Älteren können die Präparate stimulierend wirken

Als Hauptnebenwirkung der Benzodiazepine nennt der Kollege eine dosisabhängige übermäßige Sedierung, die sich u.a. durch Benommenheit, Konzentrations- und Koordinationsstörungen oder Verwirrtheit bemerkbar macht. Unangenehm sind zudem ein „Hangover-Effekt“ am nächsten Morgen oder – bei Langzeitanwendung – eine emotionale Abstumpfung und depressive Verstimmungen. Insbesondere bei älteren Patienten können die Medikamente paradoxerweise stimulierend wirken und Erregungs- und Angstzustände, Schlaflosigkeit oder Albträume hervorrufen.

Was passiert, wenn Patienten eine zu hohe Dosis eingenommen haben? Als Hinweise auf eine Benzodiazepin-Intoxikation gelten eine reduzierte Vigilanz, ein verminderter Muskeltonus („weiche Knie“), aber auch Ataxie oder Dysarthrie. Laut Dr. Kokott ist eine Bewusstseinsstörung bei erhaltenen Vitalfunktionen und fehlenden neurologischen Ausfällen für solche Intoxikationen typisch.

Vorsicht, Gewöhnungseffekt!

Bei längerfristiger Benzodiazepineinnahme entwickelt sich nicht selten eine Toleranz: Die ursprüngliche Dosis wirkt nicht mehr so recht, der Patient steigert die Dosis immer weiter, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Das kann schließlich zum Kontrollverlust führen. Die Gewöhnung gegenüber dem schlafinduzierenden Effekt entwickelt sich oft rascher, diejenige gegenüber der angstlösenden Wirkung etwas langsamer.

Benzodiazepine greifen tief in den Hirnstoffwechsel ein und bewirken u.a. eine verstärkte Aktivierung dopaminerger Neurone, was das Abhängigkeitspotenzial dieser Wirkstoffgruppe erklären könnte. Eine Abhängigkeit samt Entzugssymptomen kann sich je nach Substanz bereits innerhalb weniger Wochen entwickeln, warnt der Autor. Recht hoch scheint die Gefahr aus klinischer Sicht bei Lorazepam, Alprazolam und Diazepam zu sein. Substanzen mit kurzer Wirksamkeit führen schneller zu einer Toleranzentwicklung als lang wirksame (s. Kasten). Rasche Anflutung, kurze Halbwertszeit und hohe Potenz verstärken das Abhängigkeitspotenzial, aber auch eine hohe Dosierung und lange Einnahmedauer scheinen eine Rolle zu spielen.

Dosis wöchentlich um 10–25 % reduzieren

Wenn Patienten ihr Benzodiazepin nach längerer Einnahme plötzlich absetzen, kann es zu Beschwerden wie Angst, Schlaflosigkeit und Albträumen oder zu vegetativen Zeichen wie Schwitzen, Tremor und Tachykardie kommen. Zu den möglichen Entzugssymptomen gehören aber auch generalisierte Krampfanfälle, Fieber und psychotische Zustände. Letale Verlaufe sind nicht ausgeschlossen. Die Entzugsbehandlung bei Benzodiazepin-Abhängigkeit kann in verschiedenen Settings erfolgen. Für die ambulante Entzugstherapie wird empfohlen, kurz wirksame Benzos auf eine Äquivalenzdosis eines mittel- bis lang wirksamen Präparats umzustellen (z.B. auf Oxazepam oder Diazepam). Es ist ratsam, die Dosierung über vier bis zehn Wochen langsam zurückzunehmen, wöchentlich sollte um 10–25 % der Ausgangsmenge reduziert werden. Hilfreich ist eine begleitende Psychotherapie. In einigen Fällen kommt eine ambulante Entzugstherapie allerdings nicht infrage. Dazu gehören:
  • Hochdosis-Abhängigkeit
  • schwerwiegende Entzugssymptomatik
  • schlechter Allgemeinzustand
  • psychiatrische Begleiterkrankung
  • zusätzliche Alkohol- oder Drogenabhängigkeit
Auch bei der stationären Entgiftung wird ggf. auf ein lang wirksames Benzodiazepin umgestellt. Bei Bedarf werden Medikamente zur Anfallsprophylaxe (Carbamazepin, Gabapentin etc.) oder trizyklische Antidepressiva bzw. niederpotente Antipsychotika zur Überbrückung von Schlaflosigkeit und psychomotorischer Unruhe verabreicht. Zur Rezidivprophylaxe eignet sich eine begleitende Psychotherapie, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie.

Quelle: Kokott P. internistische praxis 2021; 63: 514-521

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Bereits eine kurzfristige Benzodiazepin-Einnahme sorgt für Defizite und beeinträchtigt das Gedächtnis bis hin zur anterograden Amnesie. Bereits eine kurzfristige Benzodiazepin-Einnahme sorgt für Defizite und beeinträchtigt das Gedächtnis bis hin zur anterograden Amnesie. © iStock/Jay Yuno