Bestmögliche Krankheitskontrolle erreichen

Friederike Klein

Diese Myastheniepatientin versucht vergeblich, ihr rechtes Auge zu öffnen. Diese Myastheniepatientin versucht vergeblich, ihr rechtes Auge zu öffnen. © wikipedia/Dr. James Heilman

Von der Multiplen Sklerose kennt man bereits die an der Krankheitsaktivität orientierte Therapie. Nun hält das Konzept Einzug bei der Myasthenia gravis. Dies wird sich in der neuen Leitlinie widerspiegeln. Erste Einblicke.

Die Myasthenia gravis (MG) ist eine T-Zell-abhängige, komplement- und antikörper-mediierte Autoimmunerkrankung. Etwa 85 % der Patienten weisen IgG1- und IgG3-Antikörper gegen den postsynaptischen Acetylcholinesterase-Rezeptor (AChR) auf. Seltener finden sich Antikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK) oder gegen LRP4 (lipoprotein receptor-related protein 4), erläuterte Professor Dr. Heinz Wiendl von der Universitätsklinik für Neurologie in Münster. Bei etwa 5 % der Patienten lassen sich keine Antikörper nachweisen (seronegative MG). Einen besonders großes Risiko für einen schweren Verlauf haben Patienten mit MuSK-positiver MG, solche mit Thymom und Patienten mit einem späten Erkrankungsbeginn.

Von wegen gut behandelbar

Die Myasthenia gravis gilt zwar insgesamt als relativ gut behandelbar, die Patienten sagen aber häufig etwas anderes, berichtete Professor Dr. Andreas Meisel, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. In einer schwedischen Querschnittstudie gab fast die Hälfte der befragten 1.077 Patienten mit MG an, trotz Therapie unter Symptomen zu leiden, die sie im Alltag beeinträchtigen. Eine akzeptable Symptombelastung (MG-ADL < 3) lag bei 53 % der Antwortenden vor, 47 % hatten eine stärkere Symptomlast. Das ist in Deutschland ähnlich, meinte Prof. Meisel. Im Deutschen Myasthenie-Register waren weniger als 18 % der Patienten mit MG nach eigenem Bekunden symptomfrei, von den Patienten mit einer Erkrankungsdauer von weniger als zwei Jahren nur gut 10 %. Bei etwa 50 % der Patienten ergab sich ein MG-ADL-Score von 1–5. Befragt mit dem Lebensqualitätsfragebogen SF-36, gaben 1.660 Patienten mit MG im Vergleich zu 2.556 Kontrollen eine schlechtere körperliche wie soziale Funktion und Rollenfunktion sowie eine deutlich reduzierte Vitalität an. Es besteht da ein erheblicher „Medical Need“, betonte Prof. Meisel.

Durch die Therapie soll eine Myasthenie nicht einfach nur besser werden. Laut Prof. Wiendl lautet das Ziel analog zu dem bei Multipler Sklerose: minimale Krankheitsaktivität oder sogar volle Krankheitskontrolle/Remission bei möglichst nicht mehr als milden Nebenwirkungen. Das sei bei vielen Patienten realistisch, betonte der Kollege. Er berichtete über die in Vorbereitung befindliche neue Leitlinie zur Myasthenia gravis, in der zwischen vier Stufen von Krankheitskontrolle unterschieden wird.
  • Stufe 1: volle Krankheitskontrolle ohne residuelle Symptome, Freiheit von Krankheitsaktivität
  • Stufe 2: volle Krankheitskontrolle, aber minimale Residualsymptome (inkomplette Remission), keine nachweisbare Krankheitsaktivität
  • Stufe 3: suboptimale Krankheitskontrolle mit Instabilität, Verschlechterung, Fluktuationen mit residuellen Symptomen und kontinuierlichen oder sich neu entwickelnden Symptomen mit und ohne Fluktuationen oder Krisen
  • Stufe 4: keine Krankheitskontrolle. Der Patient zeigt kontinuierlich Symptome mit oder ohne Krisen bzw. krisenhafte Verschlechterungen, Therapieresistenz bzw. einen therapierefraktären Status.
Die Erkrankungsschwere lässt sich auf Basis der Krankheitsaktivität und der MGFA-Klassifikation ermitteln. Unterschieden werden ein milder/moderater bzw. ein (hoch-)aktiver/therapieresistenter Verlauf. Was fehlt, ist allerdings ein Surrogatparameter zur Beurteilung der Aktivität analog zu den MRT-Läsionen bei der MS. Als wichtige Skalen zur Einschätzung empfahl Prof. Wiendl insbesondere den quantitativen Myasthenia-gravis-Score (QMG) auf Basis der Untersuchung von Sentinel-Muskelgruppen sowie die Myasthenia Gravis Activities of Daily Living (MG-ADL) Scale, die die funktionellen Einschränkungen im Alltag aus Patientensicht erhebt. Abhängig von der Krankheitsaktivität unterscheiden sich die Therapieoptionen. Was die noch nicht abschließend konsentierte Leitlinie vorsieht, umriss Prof. Wiendl wie folgt:

Rein okuläre Myasthenie

Sie wird mit Glukokortikoiden ± Azathioprin behandelt. Alternativ zu Azathioprin können Mycophenolatmofetil (MMF), Ciclosporin A (CsA) oder Methotrexat (MTX) gegeben werden.

AChR-positve und seronegative Myasthenie

  • Liegt eine milde bis moderate Krankheits­aktivität vor, sind die symptomatische Behandlung mit nicht-ZNS-gängigen Acetyl­cholinesterase(ACh)-Inhi­bitoren (Pyridostygmin, Neo­stigmin, Ambenonium) plus die Verlaufsmodifikation mit Glukokortikoiden ± Azathioprin (± Thymektomie) erste Wahl.
    Medikamente der 2. Wahl sind MMF, CsA, MTX und Tacrolimus.
  • Bei (hoch-)aktivem oder therapierefraktärem Verlauf kommen bevorzugt Eculizumab oder Rituximab ± Thymektomie zum Einsatz.
    Therapie der 2. Wahl sind intravenöse Immunglobuline (IVIG), Plasmapherese bzw. Immunadsorption und Cyclophosphamid sowie ggf. experimentelle Optionen wie Bortezomib.

MuSK-Antikörper-positive Myasthenie

  •  Therapie der 1. Wahl bei milder/moderater Aktivität sind Glukokortikoide ± Azathioprin.
  • Bei (hoch-)aktivem oder refraktärem Verlauf ist Rituximab zu bevorzugen.
Die Therapie der 2. Wahl erfolgt jeweils analog zur AChR-Antikörper-positiven MG.

Drohende oder manifeste myasthene Krise

Sie ist immer ein Notfall und erfordert die rasche Aufnahme und kompetente Behandlung auf einer Intensivstation. Hoch dosierte IVIG und Plasmapherese bzw. Immunabsorption sind in dieser Situation vergleichbar wirksam und verkürzen die Beatmungszeit.

Für die Thymektomie gibt es auch bei der Nicht-Thymom-MG eine Klasse-1-Evidenz. Sie sollte bei Patienten mit generalisierter AChR-Antikörper-positiver MG im Alter zwischen 18 und 65 Jahren frühzeitig diskutiert und spätestens fünf Jahre nach der Diagnosestellung durchgeführt werden. Bei pädiatrischen Patienten im Alter von fünf bis zehn Jahren ist dieser Eingriff allerdings erst nach Versagen der medikamentösen Therapie (Cholinesteraseinhibitoren, Glukokortikoide) in Betracht zu ziehen. MuSK-Antikörper-positive Patienten profitieren nach aktueller Datenlage nicht von einer Thymektomie. Thymome sind in jedem Lebensalter und unabhängig vom Myasthenie-Schweregrad eine Operationsindikation, sofern die Patienten operationsfähig sind. Alternativ ist bei älteren oder multimorbiden Patienten eine palliative Strahlenbehandlung möglich. Ein Problem ist, dass für die MG nur Pyridostygmin, Glukokortikoide, Azathioprin und Eculizumab zugelassen sind, erklärte Prof. Wiendl. Unter zwei Bedingungen sei aber ein Off-Label-Use anderer Substanzen plausibel: wenn Kontraindikationen gegen die zugelassenen Medikamente bestehen oder sie nicht vertragen werden oder wenn der Patient nur unzureichend auf Azathioprin anspricht und/oder der Langzeitsteroidbedarf > 7,5 mg Prednisolonäquivalent pro Tag liegt. MMF und IVIG sind bei der MG laut G-BA nur unter bestimmtenVoraussetzungen erstattungsfähig.

Kongressbericht: 94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – Live. Interaktiv. Digital

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