Reif für die Routine?

EAU 2024 Dr. Christoph Oing

Auf dem EAU wurden neue  Therapiestandards für Patienten mit seminomatösen Keimzelltumoren diskutiert. Auf dem EAU wurden neue Therapiestandards für Patienten mit seminomatösen Keimzelltumoren diskutiert. © M+Isolation+Photo – stock.adobe.com

Die Standardchemo- oder -strahlentherapie erzielt hohe Heilungsraten beim Seminom im klinischen Stadium IIA/B. Gegenstand aktueller Studien ist die Deeskalation zur Reduktion teils schwerwiegender Langzeitfolgen.

Auf der diesjährigen Jahrestagung der European Association of Urology (EAU) wurden im Rahmen einer multidisziplinären Paneldiskussion die Therapiestandards und mögliche neue Therapieoptionen für Patienten mit seminomatösem Keimzelltumor und kleinvolumiger retroperitonealer Metastasierung diskutiert. 

Die klinische Stadieneinteilung und stadienadaptierte Therapiemaßnahmen richten sich nach der Größe der retroperitonealen Lymphknotenmetastasen (klinisches Stadium IIA, Lymphknoten bis 2 cm im maximalen Durchmesser; klinisches Stadium IIB, Lymphknoten mit > 2 x, bis ≤ 5cm). Bisher war der Therapiestandard im Stadium IIA und IIB eine Kombinationschemotherapie mit 3 Zyklen Cisplatin, Etoposid und Bleomycin (PEB) bzw. 4 Zyklen Cisplatin/Etoposid (PE) bei Kontraindikationen gegen Bleomycin oder eine Bestrahlung der ipsilateralen Lymphabflusswege infrarenal bis iliakal mit kumulativ 30 Gy (Stadium IIA) bzw. 36 Gy (Stadium IIB). 

Mit beiden Behandlungsmodalitäten werden > 95 % der Patienten dauerhaft geheilt. Die Rezidivraten sind stadienabhängig extrem gering im Stadium IIA und bis zu 14 % bzw. 20 % im klinischen Stadium IIB nach Standardchemo- oder Strahlentherapie.1 Problematisch sind allerdings die therapieassoziierten Langzeitnebenwirkungen. Sowohl die Chemotherapie als auch die Radiotherapie gehen mit einem erhöhten Risiko teils lebensbedrohlicher Langzeitnebenwirkungen einher. Hierzu zählen insbesondere kardiovaskuläre Ereignisse und Sekundärmalignome.2 

Niedrige Rezidivrate unter RPLND plus adjuvanter Chemo

Angesichts der hohen Heilungsraten besteht großes Interesse an der Reduktion der Therapieintensität, um bei erhaltener Wirksamkeit die Belastung durch Langzeitfolgen der zytotoxischen Behandlung zu reduzieren. Hierzu werden in laufenden klinischen Studien und prospektiven Behandlungsserien verschiedene neue Therapieansätze evaluiert, die auf der EAU Jahrestagung 2024 in Paris ausführlicher diskutiert wurden. 

Dr. Cazzaniga vom Royal Marsden Hospital, London, diskutierte den Einsatz der primären retroperitonealen Lymphknotendissektion (RPLND) gefolgt von einem Zyklus einer adjuvanten Chemotherapie mit Carboplatin.3 An bisher 51 behandelten Patienten zeigte sich eine Rezidivrate von lediglich 4 %. Die Rezidivrate ist damit deutlich geringer als kürzlich in drei Phase-2-Studien zur alleinigen RPLND berichtet, die Rezidivraten ohne systemische Chemotherapie von knapp 10 %–30 % berichtet hatten.4-6 

Die mildere Chemotherapie scheint demnach insbesondere das Risiko systemischer Erkrankungsrezidive außerhalb des operativen Feldes zu verringern, jedoch bedeutet eine adjuvante Chemotherapie immerhin eine Übertherapie für mindestens 70 % dieser Patienten. 

Dr. Papachristofilou vom Unispital Basel demonstrierte Ergebnisse der Phase-2-Studie SAKK 01/10 (NCT03937843), die den Einsatz einer sequenziellen Chemotherapie mit einem Zyklus Carboplatin gefolgt von einer Bestrahlung allein der befallenen Lymphknoten mit 30 Gy (Stadium IIA) bzw. 36 Gy (Stadium IIB) untersuchte.7 Hiermit betrug das progressionsfreie Überleben nach drei Jahren 93,8 %, womit die Studie das Ziel von 95 % nur knapp verfehlte. Alle Patienten, die ein Rezidiv erlitten, wurden durch die vorgenannte Standardchemotherapie bislang erfolgreich behandelt und es gab keine höhergradigen therapieassoziierten Nebenwirkungen zu berichten. 

In der Nachfolgestudie SAKK 01/18 wird aktuell untersucht, ob sich trotz weiterer Reduktion der kumulativen Strahlendosis auf 24 Gy bzw. 30 Gy, aber unter Gabe eines Zyklus PE im klinischen Stadium IIB, die Ergebnisse weiter verbessern lassen. 

In der nicht gesondert diskutierten französischen Phase-2-Studie SEMITEP erhielten Patienten mit retroperitoneal metastasiertem Seminom nach zwei Zyklen Standard-PE eine Positronen-Emissions-Tomografie (PET) zur metabolischen Remissionskontrolle.8 Patienten mit negativer PET erhielten nur einen weiteren Zyklus Carboplatin, bei weiterhin PET-positiver Erkankung wurde die Standardtherapie mit zwei weiteren Zyklen PE komplettiert. 

Hiermit lag die Rezidivrate im klinischen Stadium IIA/B ebenfalls unter 10 %. Die Folgestudie EDEN (NCT05529251) untersucht nun eine PET-basierte Deeskalation der Therapie nach einem Zyklus EP mit entweder anschließender Radiatio der befallenen Lymphknoten oder einem Zyklus Carboplatin bei PET-negativer Remission für Patienten mit initial maximal 3 cm großen Lymphknotenmetastasen.

Keine der vorgenannten neuen Therapiestrategien hat bislang Eingang in europäische Leitlinien zur Behandlung von Keimzelltumoren gefunden. Hingegen führen die US-amerikanischen Leitlinien des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) und der American Urological Association (AUA) die alleinige RPLND neuerdings als Therapieoption auf.

Das Thema der Therapiedeeskalation ist angesichts steigender Keimzelltumorpatientenzahlen sehr relevant, insbesondere auch wegen der steigenden Zahl von Patienten mit primär auf den Hoden beschränkter Erkrankung (Stadium I, > 80 % der Fälle), die nach der Orchidektomie mittlerweile bevorzugt aktiv überwacht werden und hierunter Rezidivraten von bis zu 29 % aufweisen.9 

Klar ist, es gibt aktuell mehrere vielversprechende Therapieansätze in klinischer Erprobung, um angesichts der exzellenten Heilungsaussichten das Langzeitnebenwirkungsprofil der aktuellen Therapiestandards zu mildern. Unklar ist bisher, welche der vorgestellten Maßnahmen für individuelle Patienten am besten geeignet ist und es fehlt zudem an höhergradiger Evidenz, die einen flächendeckenden Einsatz der neuen Deeskalations-Strategien rechtfertigt. Idealerweise sollten Seminom-Patienten mit kleinvolumiger Metastasierung im Retroperitoneum (Stadium IIA/B) im Rahmen klinischer Studien oder in Absprache mit einem lokalen Keimzelltumorzentrum behandelt werden.

Quellen:
1.  Heinzelbecker J et al. World J Urol 2022; 40: 2829-2841; DOI: 10.1007/s00345-021-03873-5
2.  Chovanec M et al. Nat Rev Urol 2021; 18: 227-245; DOI: 10.1038/S41585-021-00440-W
3.  Cazzaniga W et al. Eur Urol 2023; 83: S1065; DOI: 10.1016/S0302-2838(23)00794-7
4.  Daneshmand S et al. J Clin Oncol 2023; 41: 3009-3018; DOI: 10.1200/JCO.22
5.  Hiester A, Che Y et al. Eur Urol 2023; 84: 25-31; DOI: 10.1016/j.eururo.2022.10.021
6.  Heidenreich A et al. Eur Urol Oncol 2024; 7: 122-127; DOI: 10.1016/J.EUO.2023.06.004
7.  Papachristofilou A et al. Lancet Oncol 2022; 23: 1441-1450; DOI: 10.1016/S1470-2045(22)00564-2
8. Loriot Y et al. Eur Urol 2022; 82: 172-179; DOI: 10.1016/j.eururo.2022.04.031
9. Patrikidou A et al. Eur Urol 2023; 84: 289-301; DOI: 10.1016/J.EURURO.2023.04.010

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Dr. Christoph Oing, Newcastle University Dr. Christoph Oing, Newcastle University © zVg
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