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Enuresis nocturna: Zuwarten verboten!
Bei Kindern mit Enuresis auf eine Spontanremission zu hoffen, ist falsch, Kontinenzproblemen im Erwachsenenalter wird so der Weg gebahnt, sagt die in Frankfurt am Main niedergelassene Ärztin für Urologie und Präsidentin der Deutschen Enuresis Akademie e.V., Dr. Daniela Marschall-Kehrel im Interview mit Medical Tribune.
? Welche Formen der Enuresis werden klinisch unterschieden und wie häufig sind sie?
Dr. Marschall-Kehrel: Mit etwa 95 % machen die primären Störungen bei der Enuresis den Löwenanteil aus. Die Betroffenen sind ab dem fünften Lebensjahr meist tagsüber trocken und nässen nur noch nachts ein. Psychische Störungen spielen kausal eher keine Rolle und treten allenfalls infolge der organischen Probleme auf.
Ein Kind, das sich nicht vorstellen kann, eine Nacht trocken zu überstehen, hat eine negative Erwartungshaltung und ein höheres Risiko einzunässen. Es vertraut seinem Körper nicht und fühlt sich anderen Kindern gegenüber extrem benachteiligt, weil es eine wichtige Leistung, nämlich trocken zu bleiben, nicht erbringt. Bei sekundärer Enuresis nässen Kinder nachts ein, nachdem sie zuvor mindestens sechs Monate trocken waren. Diese Form tritt mit einer Rate von 3-5 % deutlich seltener auf und ist viel häufiger psychisch verursacht bzw. mit Belastungssituationen verbunden.
? Wie lange darf man zuwarten, bis man mit der Behandlung der Enuresis beginnt?
Dr. Marschall-Kehrel: Leider glauben immer noch viele Ärzte, dass es zu Spontanremissionen kommt. Viele der über Fünfjährigen werden deshalb nicht behandelt und die Eltern bekommen tröstende Worte. Nach allem, was wir heute wissen und mehr und mehr lernen, birgt dieses Zuwarten Risiken. Denn Blasengesundheit beginnt in der Kindheit.
? Mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen, wenn Kinder mit Enuresis unbehandelt bleiben?
Dr. Marschall-Kehrel: Bettnässende Kinder nehmen ihre Problematik mit ins Erwachsenenleben. Wenn ein Kind mit acht Jahren noch bettnässt, besteht ein Persistenzrisiko von 10 %. Bei einem Jugendlichen, der mit Eintritt der Pubertät unter Enuresis leidet, beträgt diese Rate Studien zufolge sogar 25 %.
US-Urogynäkologinnen, die sich mit diesem Thema wissenschaftlich befassten, sahen eine enge Korrelation zwischen Blasenproblemen in der Kindheit und im Erwachsenenalter. So hatten Frauen, die unter Inkontinenz oder Nykturie litten, oft bereits Probleme als kindliche Bettnässerinnen. In einer eigenen Studie waren 217 von 1250 Menschen, die einen Internet-Fragebogen auswertbar beantwortet hatten, auch als Erwachsene noch Bettnässer. Obwohl von einer gewissen negativen Selektion auszugehen ist, schockiert diese Rate.
Epidemiologischen Studien zufolge leidet von den 18- bis 28-Jährigen etwa jeder Zehnte an einer überaktiven Blase, z.T. mit Harninkontinenz und/oder an Nykturie. Möglicherweise haben viele der Betroffenen bereits resigniert und suchen keine ärztliche Hilfe mehr.
? Welche diagnostischen Maßnahmen sind vorrangig, wenn Eltern Hilfe für ihr Enuresis-Kind suchen?
Dr. Marschall-Kehrel: Zunächst muss geklärt werden, welche Form von Enuresis vorliegt. Das lässt sich mithilfe von Anamnese, klinischer Untersuchung und Blasentagebuch, also einem Miktions-Trink-Stuhlprotokoll herausfinden. Dafür protokollieren die Eltern zwei bis drei Tage lang Trink- und Toilettengewohnheiten ihres Kindes: Wie viel trinkt es und was? Wann geht es zur Toilette und welche Menge kommt? Zeigen sich Drangsymptome, Haltemanöver oder Pressen? Waren schon Tröpfchen in der Unterhose?
Darüber hinaus werden 14 Nächte dokumentiert. Nässt das Kind nachts ein und ggf. wie viel? Um dies zu beurteilen, wiegt man die Windeln in trockenem und feuchtem Zustand. Aber auch das Stuhlgangverhalten ist wichtig. Ein achtjähriges Kind z.B. weist eine Darmpassagezeit von ca. 16 Stunden auf und sollte schon einmal täglich Stuhlgang haben.
Anhand der erhobenen Daten kann mithilfe einer Formel* die Blasenkapazität errechnet werden. Ist beispielsweise die nächtliche Urinmenge größer als die Blasenkapazität, könnte eine nächtliche Polyurie vorliegen. Dieses Kind sollte man zu einem Spezialisten überweisen. Kommt bei der Auswertung des Blasentagebuchs hingegen heraus, dass ein Trinkfehlverhalten oder aufgeschobene Toilettengänge vorliegen, ist zunächst keine weitere urologische Abklärung erforderlich.
? Welche Therapieoptionen stehen dem Pädiater zur Verfügung?
Dr. Marschall-Kehrel: Dreh- und Angelpunkt ist die Urotherapie. Sie basiert auf verschiedenen verhaltenstherapeutischen Methoden und zeigt Ansprechraten bis zu 45 %. Das sollte man auch jedem Kind vermitteln und so seine Compliance herauskitzeln nach dem Motto: „Du hast die Chance, dich selbst trocken zu machen, nur durch meine Tipps und ohne, dass du Tabletten schlucken musst. Das wäre doch cool.“ Auch die Eltern müssen verstehen, dass 50 % der Behandlung in der Hand ihres Kindes liegt.
Gemäß Urotherapie richtet sich die Trinkmenge nach dem Körpergewicht. Pro Tag und Kilogramm Körpergewicht sind etwa 40-50 ml Flüssigkeit vorgesehen. 75 % der Trinkmenge sollten vor 17 Uhr aufgenommen werden, in der letzten Stunde vor dem Schlafen gibt es nichts mehr. Um die Kinder zu unterstützen, alle zweieinhalb Stunden auf Toilette zu gehen und in gleichen Abständen zu trinken, kann man ihnen eine Alarmuhr geben. Wenn sie piept, vibriert oder klingelt, ist es wieder soweit.
Aber auch so banale Dinge wie das richtige Sitzen auf der Toilette gehören zur Urotherapie. Um entspannt zu sitzen, sollten die Oberschenkel parallel zum Boden und die Füße locker aufgestellt sein, ggf. mithilfe eines Hockers vor der
Toilette.
? Welche Rolle spielen Alarmtherapie und Medikamente?
Dr. Marschall-Kehrel: Wird bei einem Kind festgestellt, dass die nächtliche Harnproduktion normal, doch die Speicherkapazität der Blase zu gering ist, kommt eine Alarmtherapie infrage. Mit Hilfe elektronischer Weckgeräte versucht man eine Verhaltensänderung zu erzielen. Ein Feuchtigkeitssensor in der Windeleinlage oder im Höschen („Klingelhose“) löst beim ersten Urintropfen einen Alarm aus. Das Kind wird dadurch wach und kann zur Toilette gehen. Doch diese Methode ist sehr anspruchsvoll und erfordert hoch motivierte Familien, da die Nachtruhe leidet.
Bei Bettnässern mit hoher nächtlicher Urinmenge und normaler Blasenkapazität kann eine medikamentöse Behandlung mit Desmopressin erwogen werden. Damit wird die Harnproduktion während der Nacht verringert. Auch Polyurien behandelt man mit dieser Substanz, die dem körpereigenen Hormon ADH ähnelt.
? Auf welche Service-Angebote können Eltern, aber auch Ärzte im Internet zurückgreifen?
Dr. Marschall-Kehrel: Unter www.blasentagebuch.de ist ein interaktives Blasentagebuch abrufbar. Das umfassende Tool wurde durch Zusammenarbeit unserer Enuresis-Akademie mit der Initiative „Trockene Nacht“ entwickelt. Unter www.initiative-trockene-nacht.de gibt es auch einen CHAT für betroffene Kinder und Jugendliche. Interessierte pädiatrische Kollegen finden auf www.Kontinenzschulung.de u.a. das Angebot, sich in Sachen Kontinenztraining weiterzubilden.
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