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Hier selten, dort häufig
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Eine 38-jährige Patientin, die vor 24 Jahren aus Sierra Leone eingewandert war, stellte sich wegen einer zunehmenden spastischen Paraparese in der Klinik vor. Die Symptome betrafen ausschließlich die Beinmuskulatur, berichtete Dr. Nadine Hambsch, Diako Mannheim. Die Patientin klagte außerdem über ständigen Harndrang, der sie im Alltag einschränkte. Als Vorerkrankungen waren Alkoholabusus mit mehreren Entzugstherapien, Asthma und eine mikrozytäre Anämie bei Eisenmangel bekannt. Die neurologische Untersuchung ergab eine leichte, proximal betonte Paraparese mit spastisch erhöhtem Tonus der Beinmuskeln und positiven Pyramidenbahnzeichen, u.a. lagen gesteigerte Muskeleigenreflexe und rechts ein positives Babinski-Zeichen vor. Die Sensibilität war nicht eingeschränkt.
HTLV-1 ist in vielen Weltregionen heimisch
Angesichts von Anamnese und Befundmuster kamen viele Differenzialdiagnosen infrage – von HIV-Myelopathie und Neurolues über Amyotrophe Lateralsklerose und MS bis hin zur hereditären spastischen Paraparese. Die Familienanamnese war nicht zu erheben, MRT, Labor und Elektrophysiologie brachten bis auf oligoklonale Banden im Liquor nur unauffällige Befunde, ließen aber das Ursachenspektrum eingrenzen. Die Mannheimer Kollegen tippten auf eine infektiöse Ursache und lagen damit richtig. HIV und Syphilis ließen sich zwar nicht nachweisen, dafür aber Humanes T-lymphotropes Virus (HTLV) 1 in Blut und Liquor.
Das zugehörige Krankheitsbild heißt Tropische Spastische Paraparese (TSP), erklärte Dr. Hambsch. Dazu passten die neuromuskulären Symptome, die neurogene Blasenstörung und die Herkunft aus einem Endemiegebiet. Neben Südamerika und Afrika zählen dazu auch Japan, die Karibik und der mittlere Osten. In Europa ist HTLV-1 rar, die Seroprävalenz liegt unter 0,1 %. Übertragen wird es durch Muttermilch, Sexualkontakte oder kontaminierte Blutprodukte.
Für das therapeutische Prozedere gibt es kaum Evidenz und schon gar keinen kurativen Ansatz. Also starteten die Manheimer Kollegen einen Versuch mit vierteljährlichen Kortisonstößen und Physiotherapie zur Symptombesserung. „Aus dem HIV-Bereich übernommene antivirale Behandlungsansätze sind versucht worden, weil HTLV-1 ebenfalls ein Retrovirus ist. Sie haben sich aber als nicht wirksam erwiesen“, so Dr. Hambsch. Die Infektion lässt sich derzeit nicht heilen, sodass mit einem langsamen Fortschreiten der Symptome bis hin zur Rollstuhlpflichtigkeit zu rechnen ist. Hinzu kommt, dass HLTV-1 eine T-Zell-Leukämie induzieren kann, weshalb regelmäßige Blutbildkontrollen zu empfehlen sind. Bei der Patientin aus Sierra Leone war dies nicht möglich, da die Kollegen sie – womöglich bedingt durch ihre Polytoxikomanie – rasch aus den Augen verloren.
Parkinsonsymptome sprachen nicht auf L-Dopa an
Den zweiten ungewöhnlichen Fall stellte Dr. Henrike Hanßen vom Universitätsklinikum Lübeck vor. Sie berichtete über einen 35 Jahre alten, von den Philippinen stammenden Patienten mit gestörter Feinmotorik der Finger, die seit zwei Jahren immer stärker wurde. Beim Schreiben verkrampfte sich seine Hand. Zudem bestand seit einem Jahr eine Gangstörung und eine veränderte Stimme. Eine auswärts angefertigte Kernspintomographie des Schädels ergab einen unauffälligen Befund. Unter dem Verdacht eines Morbus Parkinson war eine L-Dopa-Therapie versucht worden, die dem Mann aber kaum geholfen hatte.
Bei der neurologischen Untersuchung des Mannes im Lübecker Uniklinikum fielen eine Hypomimie und eine ausgeprägte beidseitige Brachydiadochokinese auf. „Für ein idiopathisches Parkinsonsyndrom wäre das nach einem Verlauf von nur zwei Jahren sehr ungewöhnlich“, meinte Dr. Hanßen. Der Gang des Patienten war kleinschrittig, die Arme schwangen kaum mit.
Zwei seiner Brüder und weitere Verwandte litten ebenfalls an Bewegungsstörungen, was ein hereditäres Parkinsonsyndrom nahelegte. Das häufigste, das autosomal-dominant vererbte Syndrom mit Mutation in PARK-LRRK2, ähnelt dem idiopathischen Parkinson hinsichtlich Erkrankungsalter und Verlauf. Dagegen sprachen in diesem Fall das junge Alter des Patienten und die rasche Progredienz. Mutationen in PARK-Parkin oder PARK-PINK1, beide autosomal-rezessiv vererbt, kamen eher infrage, zumal die diskreten dystonen Symptome des Patienten gut damit vereinbar waren, wie Dr. Hanßen erklärte. Was allerdings ganz schlecht dazu passte, war das schlechte Ansprechen auf L-Dopa.
Des Rätsels Lösung: Bei dem 35-Jährigen lag ein X-chromosomales Dystonie-Parkinson-Syndrom (XDP) vor, ein bisher nur bei philippinischen Männern beschriebenes Krankheitsbild. Die Mütter sind Trägerinnen, erkranken aber meist selbst nicht, weil das intakte Gen auf dem zweiten X-Chromosom das Defizit kompensiert. Die Mutation kommt vor allem auf einer Philippinen-Insel vor, auf Panay Island – die Prävalenz beträgt hier bis zu 23,7/100.000 Einwohner. In der übrigen Welt ist sie mit 0,31/100.000 sehr gering.
Die XDP beginnt meist mit einer fokalen Dystonie, generalisiert aber innerhalb weniger Jahre. Die dystonen Symptome verflüchtigen sich nach einer etwa zehn Jahre dauernden Plateauphase. Parkinsonsymptome setzen oft später ein und werden spät erkannt, weil die Dystonie im Vordergrund steht. Schluckstörungen können zu Kachexie und Aspirationspneumonien führen und dadurch die Lebenszeit verkürzen.
Für die medikamentöse Therapie steht wenig zur Verfügung, erklärte Dr. Hanßen. L-Dopa, Biperiden, Z-Substanzen und Benzodiazepine werden versuchsweise verordnet, wirken aber in der Regel unzureichend auf dystone und Parkinsonsymptome.
THS sorgt bei XDP für beeindruckende Erfolge
Botulinumtoxin hilft bei fokalen Dystonien, stößt aber bei generalisierten Formen an Grenzen. Dr. Hanßens Arbeitsgruppe hat daher vor einigen Jahren begonnen, XDP-Patienten mit Tiefenhirnstimulation des Globus pallidus zu behandeln. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Ein Patient mit schwerer generalisierter Dystonie präsentierte sich schon eine Woche nach dem Therapiestart mit einem 80%igen Symptomrückgang. „Das ist sehr ungewöhnlich für die THS bei Dystonie, normalerweise dauert das Wochen und Monate“, betonte Dr. Hanßen. Die XDP scheint sehr schnell anzusprechen und die Ergebnisse bleiben langfristig erhalten, wie die Erfahrungen bei weiteren Patienten bestätigen.
Kongressbericht: 94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – Live. Interaktiv. Digital.
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