Genetisch basierte Therapien bewähren sich bei seltenen Krankheiten

Manuela Arand

Genetisch basierte Therapien werden sich viele Felder in der Neurologie erobern. Genetisch basierte Therapien werden sich viele Felder in der Neurologie erobern. © iStock/metamorworks

Genetisch basierte Therapien sind auf dem Vormarsch. Sie packen Krankheiten „an der Wurzel“ und erweisen sich oft als sehr gut verträglich. Auch Neurologen werden sich zunehmend mit ihnen auseinandersetzen müssen.

Gentherapien werden vor allem für seltene neurologische Erkrankungen wie die Duchenne-Muskeldystrophie, die spinale Muskelatrophie und die hereditäre Transthyretin-assoziierte Amyloid-Polyneuropathie vorangetrieben. Professor Dr. Tim Hagenacker, Universitätsklinikum Essen, ist aber sicher, dass diese Strategien Blaupausen sein werden für viele Fel­der der Neurologie. Aus seiner Sicht ist es daher sinnvoll, sich mit den Grundlagen vertraut zu machen.

Domäne der klassischen Gen­ersatztherapie sind Loss-of-Function-Mutationen. Häufig kommt es aber auch zum „Gain of Function“, wenn durch pathologische Veränderung des Gens zu viel Protein oder eine falsche Version davon entsteht. Solche pathologischen Gene auszuschalten, gelingt mit Antisense-Oligonukleotiden (ASO) oder kleinen interferierenden RNA (siRNA).

Die Nukleotidketten intrathekal applizieren

Antisense-Oligonukleotide sind kurze einsträngige Nukleotidketten, die an die messenger-RNA des „falschen“ Proteins binden. Der Komplex wird im Zellkern als fehlerhaft identifiziert, durch RNAsen zerstört und so die Transkription verhindert. Dazu muss das Gen, das abgeschaltet werden soll, natürlich bekannt und sequenziert sein. ASO können auch dazu benutzt werden, Suppressorgene stumm zu schalten, um eine Loss-of-Function-Mutation auszugleichen. Damit es gelingt, ZNS-Erkrankungen zu therapieren, müssen diese Nukleotide intrathekal appliziert werden.

siRNA spiegeln ebenfalls den Gen­anteil, der supprimiert werden soll. „siRNA funktionieren wie ein Personalausweis“, erklärte Prof. Hagenacker. „Sie signalisieren der Zelle: Alles, was so aussieht, bitte nicht exprimieren.“ Die Suppression lässt sich dosisabhängig steuern – die Proteinsynthese kann komplett unterdrückt werden oder auch nur um die Hälfte, je nach Therapieziel. Überexprimierte Proteine haben häufig auch eine physiologische Funktion, auf die man nicht völlig verzichten möchte oder kann.

Genersatz nutzt virale Vektoren, um die fehlenden Gene in die Zelle zu bringen. Je nach Virus hat das unterschiedliche Folgen: Adeno-assoziierten Viren (AAV) sind unterschiedlich organotrop, sodass sich Zielorgane spezifisch ansteuern lassen. Das eingeschleuste Genmaterial wird im Zellkern abgelesen, aber nicht ins Genom integriert. Ein Nachteil: Die Durchseuchung mit Adenoviren ist hoch, sodass der Patient u. U. bereits Antikörper gegen den Vektor entwickelt hat.

Lentiviren werden ebenfalls als Genfähren benutzt. Sie integrieren die Erbinformation ins Genom, was gewisse Mutagenitätsrisiken birgt, im Gegenzug aber bei nicht mehr teilungsfähigen Zellen wie Neuronen zur dauerhaften Heilung führt.

Genbasierte Therapien sind bereits erstaunlich breit verfügbar. „Die größte Erfolgsstory ist zurzeit die spinale Muskelatrophie, bei der wir gleich mehrere Verfahren zur Verfügung haben“, berichtete Prof. Hagenacker. Sie setzen am Survival- Motor-Neuron(SMN)-Gen an, das in zwei Versionen in den Motoneuronen vorhanden ist. Von denen wird jedoch nur eine in ausreichende Mengen des voll funktionsfähigen SMN-Proteins umgesetzt.

Als erstes kausal wirksames Medikament kam das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen vor mehr als drei Jahren ins Arsenal. Es funktioniert bei Erwachsenen genauso gut wie beim Kind, berichtete der Neurologe.1

Eine echte Genersatztherapie mit dem AAV9-Vektor ist Onasemnogen-Abeparvovec, besser bekannt unter dem Namen Zolgensma®, das nur für Kinder zugelassen ist. Ein Caveat sind immunologische Reaktionen, die vor allem die Leber betreffen und zu massiven Transaminasenanstiegen führen können.2

Für das small molecule Risdiplam, das die SNM-Produktion durch das weniger kompetente SNM2-Gen verstärkt und in den USA bereits zugelassen ist, hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte im September das Härtefallprogramm genehmigt.3

Zur Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie steht seit zwei Jahren Ataluren zur Verfügung. Profitieren können aber nur etwa 5 % der Patienten, nämlich jene, bei denen Punktmutationen vorliegen. Ataluren macht sie unwirksam, sodass die genetische Information für Dystrophin weitergelesen wird. Das bremst den natürlichen Krankheitsverlauf soweit aus, dass den Kindern ihre Gehfähigkeit besser erhalten bleibt.4

Eine andere Strategie ist, das von der Mutation betroffene Exon auszuschalten, sodass es überlesen wird. Das entstehende Protein ist zwar nicht ganz komplett, weil mittendrin ein Stück fehlt, aber zumindest teilweise funktionstüchtig. Ein Gen­ersatz wie bei der SMA erscheint beim Duchenne unmöglich: „Das Dystrophin-Gen ist das größte im Organismus und zu groß, um einen Vektor damit zu beladen“, erklärte Prof. Hagenacker. Versucht wird zurzeit, die defekten Exone statt das ganze Gen zu ersetzen.

Die hereditäre Transthyretin-assoziierte Amyloidose (hATTR) verursacht schwere Polyneuropathien und rasch progrediente kardiale Funktionsstörungen. Sie gilt als sehr seltene Erkrankung, aber die Dunkelziffer ist wahrscheinlich hoch. Auch hier gibt es mit Inotersen bereits ein Antisense-Oligonukleotid und mit Patisiran eine siRNA, die die Proteinsynthese auf genetischer Ebene um 70 % reduziert. Bei behandelten Patienten stabilisierten sich die Neuropathiescores, teilweise kam es sogar zu deutlichen Verbesserungen.5,6 Da Transthyretin als Transportprotein für Vitamin A dient, muss man das Vitamin nach Erfahrung von Prof. Hagenacker oft substituieren.

Vielversprechende Daten für manche ALS-Patienten

Als weiteres Einsatzgebiet für gen­basierte Strategien bietet sich die familiäre Amyotrophe Lateralsklerose an. Für ein Antisense-Oligonukleotid, das auf die eher seltene SOD1-Mutation zielt (Tofersen), hat man gerade eine Dosisfindungsstudie mit 50 Patienten erfolgreich abgeschlossen.7 Tatsächlich stabilisierte die fünfmalige intrathekale Gabe des ASO die motorische Funktion im Vergleich zu Placebo deutlich. Die Phase-3-Daten sehen recht vielversprechend aus, meinte Prof. Hagenacker: „Das wird nicht der Heilsbringer für alle ALS-Patienten, aber für eine Subgruppe – sicher ein Grund, bei vielen ALS-Patienten die Genetik noch einmal zu überprüfen.“ Für andere häufigere Mutationen sind nach seiner Überzeugung ähnliche Fortschritte zu erwarten, aber hier ist die Forschung noch nicht so weit.

Quellen:
1. Hagenacker T et al. Lancet Neurol 2020; 19: 317-325; DOI: 10.1016/S1474-4422(20)30037-5
2. Waldrop MA et al. Pediatrics 2020; 146: e20200729; DOI: 10.1542/peds.2020-0729
3. Härtefallprogramme/ Compassionate Use
4. Mercuri E et al. European neurological review 2018; 13: 31-37; DOI: 10.17925/ENR.2018.13.1.31
5. Adams et al. N Engl J Med 2018; 379: 11-21; DOI: 10.1056/NEJMoa1716153
6. Benson et al. N Engl J Med 2018; 379: 22-31; DOI: 10.1056/NEJMoa1716793
7. Miller T et al. N Engl J Med 2020; 383: 109-119; DOI: 10.1056/NEJMoa2003715

Kongressbericht: 93. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Online-Veranstaltung)

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