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Spinale Muskelatrophie: Behandelbar durch neue Therapieoptionen

Für Patienten mit spinaler Muskelatrophie (SMA), deren Angehörige und viele Ärzte hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Mit den beiden Therapeutika Nusinersen und Onasemnogen-Abeparvovec-Xioi kann der Erbkrankheit nun kausal begegnet werden. Aller begründeter Euphorie zum Trotz darf jedoch nicht vergessen werden, dass bisher nur wenige belastbare Daten über die Behandlungen zur Verfügung stehen – Daten, die für Diagnostik, Therapieentscheidung und Prognose unabdingbar sind, schreiben Dr. Megan A. Waldrop und Dr. Bakri H. Elsheikh vom Ohio State University Wexner Medical Center in Columbus.
Spinale Muskelatrophie im Kurzporträt
Je früher gestartet wird, desto größer der Benefit
Die vorhandene Evidenz belegt, dass der Benefit der Therapie gerade bei Kleinkindern umso größer ausfällt, je früher diese begonnen wird. Am besten wäre also, Neugeborene direkt auf die Erkrankung zu screenen, um sie präsymptomatisch zu erfassen. Anders als in einigen Staaten der USA ist der Test auf SMA hierzulande noch nicht in dem Screening inkludiert, wenngleich ihm das IQWiG* im März dieses Jahres einen Nutzen bescheinigte. Derzeit kommt es also verstärkt auf die Aufmerksamkeit der Ärzte an. Zwar brauchen sie den Gentest, um die Erkrankung vor den ersten Symptomen zu detektieren. Aber sie können während den Untersuchungen auf Muskelschwäche oder die typische Froschschenkelhaltung der Beine achten und Hinweisen der Eltern nachgehen. Welche Erfolge trotz einer verzögerten Diagnose möglich sind, zeigt der Fall eines kleinen Mädchens, bei der ein positiver Gentest auf SMA erst mit 5,5 Monaten vorlag. Im 4-Monats-Check konnte sie ihren Kopf in Bauchlage nicht anheben, mit sechs Monaten nicht sitzen oder rollen. Im CHOP-INTEND**, einem Standardtest zur Beurteilung von schweren Beeinträchtigungen der motorischen Fähigkeiten, erreichte sie lediglich 25 von 64 möglichen Punkten. Im Alter von 6,5 Monaten begann sie mit der Nusinersentherapie und binnen eines knappen halben Jahres kletterte ihr Wert auf 40 Punkte. Nusinersen gehört zu den Antisense-Oligonukleotiden und erhöht die Spiegel des SMN-Proteins. Es wird in mehreren Dosen intrathekal injiziert und eignet sich für Betroffene jeden Alters. Für die schwerste Form der SMA bei Kleinkindern unter zwei Jahren finden Ärzte eine zweite Therapiemöglichkeit in Onasemnogene Abeparvovec-Xioi (s. Kasten). Mittels dieses einmal intravenös verabreichten Therapeutikums schleust man ein funktionsfähiges SMN-Gen in die Zellkerne der Patienten. Doch halt: Das Erbgut des eigenen Kindes womöglich irreparabel verändern? Durch eine Therapie, über deren Langzeitwirkungen man im Grunde nichts weiß? Mit einem Ja dazu entscheiden sich die Eltern genau dafür. Verständlich, dass viele zögern – vor allem, wenn das Kind wie im folgenden Fall zwar positiv auf SMA getestet wurde, aber keinerlei Symptome zeigt.Gentherapie der spinalen Muskelatrophie: wenn ja, bei wem?
- Am SMA-Typ allein lässt sich nicht hinreichend ablesen, welche Patienten von der Gentherapie profitieren. Entscheidender sind Alter zu Erkrankungsbeginn, Dauer der SMA sowie Ausmaß der motorischen Defizite.
- Bei präsymptomatischen Betroffenen gilt die Anzahl der SMN2-Kopien als bester Prädiktor für die zu erwartende Schwere der SMA und deren Beginn. Diese Zahl dient daher am ehesten als Hilfestellung für die Therapieentscheidung, so lange keine besseren Biomarker zur Verfügung stehen.
- Die Zulassung der Gentherapie fußt vorrangig auf Studien mit Kindern aus den USA unter sechs Monaten. Hinzu kommen Daten zu Betroffenen bis zum zweiten Lebensjahr bzw. einem Körpergewicht von 13,5 kg. Andere Patientengruppen sollten die Behandlung nur nur unter sorgfältiger Abwägung und Aufklärung aller Beteiligten erhalten.
- Setzt die Therapie bei sehr früh Betroffenen spät ein oder liegen bereits schwere Einschränkungen vor, müssen Eltern wissen, dass trotz der Behandlung lebenslang ein hohes Risiko für schwere Behinderungen besteht.
- Das Risiko der intravenösen Gentherapie steigt mit dem Körpergewicht. Daher empfehlen die Experten, Patienten über 13,5 kg nur in strengen Ausnahmefällen zu behandeln und ggf. eine Alternative zu erwägen.
- Bislang existiert keine Evidenz, dass eine Kombination mit z.B. Nusinersen das Outcome stärker verbessert als die Gentherapie allein.
- Zentren, die die Gentherapie durchführen, sollten hinlänglich erfahren im Management mit SMA sein. Zudem braucht es ausreichend Ressourcen und geschulten Personal, um mit möglichen Nebenwirkungen umzugehen.
- Auf Grundlage der Evidenz, dass ein möglichst früher Therapiestart zu einem besseren Ergebnis führt, plädieren die Autoren für eine Aufnahme des SMA-Gentests in das Neugeborenenscreening.
- Bei jedem Einsatz sollten systematisch und standardisiert alle Daten zur Effektivität und Sicherheit gesammelt werden.
- Wird sich für eine Geninfusion bei Patienten entschieden, die mehr als 13,5 kg wiegen, bedarf es eines strengen Behandlungsprotokolls samt kontinuierlicher Überwachung im klinischen Setting.
- Um die Evidenz der Therapie zu verbessern, sollten sämtliche gesammelten Daten zu Effektivität und Sicherheit rasch und unverfälscht veröffentlicht werden. Dies gewährleiste den wissenschaftlichen Austausch zwischen Ärzten, Firmen, Forschern und Patientenvertretern.
Quelle: Kirschner J et al. Eur J Paediatr Neurol 2020; DOI: 10.1016/j.ejpn.2020.07.001
Nebenwirkungen zwangen zur Umstellung der Behandlung
Am achten Lebenstag erreichte der kleine Patient einen CHOP-INTEND-Score von 54, fast normal also. Aufgrund des positiven Gentests entschied man sich dennoch, ihn mit vier Wochen einer Nusinersentherapie zu unterziehen, die er zunächst gut vertrug. Im Alter von vier Monaten beobachtete die Mutter jedoch immer mehr Nebenwirkungen, vor allem Schluckbeschwerden, sodass der Wirkstoff zwei Monate später schließlich abgesetzt und die Einmalinfusion mit Onasemnogene Abeparvovec-Xioi durchgeführt wurde. Grob- und feinmotorisch entwickelte sich das Kind sehr gut, was sich etwa zwei Monate nach der Infusion und fünf Monate nach der letzten Nusinersendosis in einem stabilen CHOP-INTEND-Wert von 64 widerspiegelte. In aller Regel wird Nusinersen gut vertragen, betonen die Autoren. Doch verschiedene Studien zeigten durchaus negative Einflüsse auf die motorischen Funktionen. Mit welchem Präparat man bei kleinen Kindern startet, lasse sich nicht immer leicht entscheiden. Die Neurologen plädieren dafür, bei allen SMA-Patienten bis zum zweiten Lebensjahr beide Optionen zu diskutieren.Zu wenig Daten für über 15-jährige SMA-Patienten
Nun wird die spinale Muskelatrophie zumeist mit Kleinkindern in Verbindung gebracht. Doch umfassen v.a. die Typen III und IV Kinder jenseits des zweiten Lebensjahres bzw. Erwachsene. Diese Formen kommen weitaus seltener vor als Typ II und besonders Typ I. Da bisher nur Nusinersen für alle Altersgruppen zugelassen wurde, nicht jedoch das Gentherapeutikum, ist die Wahl bei Betroffenen über zwei Jahren klar, oder? Nicht ganz. Für Patienten, die älter als 15 sind, liegen kaum Daten zu Nusinersen vor, kritisieren Dr. Waldrop und Dr. Elsheikh. Die bräuchte es aber, um die nicht unerheblichen Kosten der Behandlung zu rechtfertigen. Vor allem mit der Erfahrung im Hinterkopf, dass die Behandlung umso bessere Ergebnisse erzielt, je früher man sie startet. Bei Älteren kann sich zudem die intrathekale Injektion schwierig gestalten, z.B. durch krankheitsbedingte Skoliosen. In solchen Fällen müsse die Therapieentscheidung auf Grundlage von verfügbaren Ressourcen und persönlichen Präferenzen der Patienten fallen, schreiben die beiden Neurologen.* Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
** Children’s Hospital of Philadelphia Infant Test of Neuromuscular Disorders
Quelle: Waldrop MA, Elsheikh BH. Neurol Clin 2020; 38: 505-518; DOI: 10.1016/j.ncl.2020.03.002
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