
Hit hard and early – (k)ein Konzept für jeden MS-Patienten

In der Diskussion um die optimale Behandlung bei Multipler Sklerose plädierte Professor Dr. Stefan Bittner von der Neurologischen Klinik der Universitätsmedizin Mainz für Zurückhaltung, was die hochaktive Induktionstherapie angeht. Dabei verwies er auf eine britische Langzeitstudie mit 120 Patienten, die 30 Jahre lang klinisch und per Bildgebung beobachtet wurden, was Rückschlüsse auf den natürlichen Verlauf der Erkrankung erlaubt.1 Nur elf der MS-Kranken hatten eine Immunmodulation erhalten.
Oft ist keine oder nur eine milde Therapie erforderlich
Zwei Patientengruppen konnte man letztlich unterscheiden: Knapp die Hälfte, alle mit schubförmig verlaufender MS (RRMS), hatten auch nach 30 Jahren noch einen EDSS unter 3,5. Nur drei derjenigen mit RRMS zeigten eine Progredienz. Alle mit sekundär progredienter MS wiesen einen EDSS über 3,5 auf, und aus dieser Gruppe stammten auch die 20 % der Patienten, die vorzeitig an der MS starben. „Wir brauchen eine individuelle Stratifizierung, denn bei Weitem nicht jede MS nimmt einen bösartigen Verlauf und oft ist keine bzw. nur eine milde Therapie gerechtfertigt“, kommentierte Prof. Bittner.
Explizit wies er auf das Nebenwirkungsrisiko unter einer hochaktiven MS-Therapie hin, das sich auch in einer großen schwedischen Registerstudie spiegelt.2 Im Vergleich zu einer Behandlung mit Interferon beta und Glatirameracetat kamen schwere, hospitalisierungsbedürftige Infektionen unter B-Zell-depletierender Behandlung mit Rituximab 1,7-fach häufiger vor, unter Fingolimod und Natalizumab waren gehäuft Herpesinfektionen zu beobachten. Daten aus den Verlängerungsstudien mit Ocrelizumab zeigen zudem, dass die Rate von Patienten mit Immunglobulinmangel nicht etwa stabil bleibt, sondern über die Jahre weiter ansteigt. Gleichzeitig nimmt das Infektionsrisiko zu.3,4 „Wir brauchen solche hochaktiven Therapien, aber es ist wichtig, dass wir wissen, was wir tun, und die Risiken sehr gut kontrollieren“, betonte Prof. Bittner. Dazu gehört, alle sechs Monate die Immunglobuline zu messen. In der Regel brechen die Patienten nicht von einem Tag auf den anderen ein, sondern es kommt zu einem kontinuierlichen Abfall.
Das Schlagwort „Hit hard and early“ sei ohne Zweifel griffig.5 Allerdings lohne der genaue Blick in Studien, die dieses Prinzip verfolgen, meinte der Kollege, – zum Beispiel in eine Beobachtungsstudie der MSBase Study Group.6 Verglichen wurde der frühe Beginn der hochaktiven Therapie binnen zwei Jahren nach der Diagnose mit einem späteren Start nach vier bis sechs Jahren. Das brachte etwa einen Punkt im EDSS nach sechs bis zehn Jahren. Diejenigen, die profitierten, waren durchweg Patienten mit hoher Krankheitsaktivität bzw. im Schnitt rund zwei Schüben pro Jahr.
Verzögerter Start, schlechteres Outcome
Das Register liefert also den Beleg, dass solche Patienten von einer frühen Therapie profitieren, beweist aber nicht, dass dies für solche mit niedriger Krankheitsaktivität genauso gilt. Prof. Bittner: „Lesen Sie das Kleingedruckte! Die Studienlage für Induktionstherapien versus kontinuierliche Therapie ist viel weniger überzeugend, als es auf den ersten Blick scheint.“
„Diese Studie ist für mich repräsentativ für viele andere, die das Gleiche zeigen“, entgegnete sein Gegenpart Professor Dr. Sven Meuth, Neurologische Universitätsklinik Düsseldorf. Schon die ersten Interferonstudien hätten ergeben, dass ein verzögerter Therapiebeginn mit einem schlechteren Outcome einhergehe. Außerdem falle der Benefit immer größer aus, wenn höher aktive gegen weniger aktive Therapie getestet werde. Als Beispiel zitierte der Kollege eine aktuelle Studie, die den selektiven CD20-Antikörper Ofatumumab gegen Teriflunomid geprüft hat, das die T- und B-Zellaktivierung reduziert.7 Ofatumumab erwies sich als signifikant wirksamer in Sachen Schubratenreduktion und Verhinderung der Behinderungsprogression.
„Die kontinuierliche, erst einmal zuwartende Therapie ist aus meiner Sicht ein Rückschritt im Konzept“, sagte Prof. Meuth. Er konzedierte jedoch, dass der Einstieg mit einer hochaktiven Therapie immer die Überlegung einschließen muss, wann es Zeit wird, zu deeskalieren. Selbst für die Stammzelltransplantation als Option für Patienten mit hochakutem Verlauf, vielen MRT-Läsionen und ausgeprägter Symptomatik gilt, dass der Effekt umso größer ausfällt, je früher man sich für diese Behandlung entscheidet.8
Für Prof. Meuth gibt es eine klare Evidenz für die hochwirksamen Therapien. Sie erreichen hohe NEDA(No Evidence of Disease Activity)-Raten und können den EDSS sogar verbessern. Um ein optimales Nutzen-Risiko-Verhältnis zu erreichen, ist es seiner Ansicht nach essenziell, dass die Therapie in Zentren stattfindet und die Patienten sorgfältig ausgewählt werden.
In diesem Punkt herrschte Einigkeit zwischen den beiden Experten: Patientenselektion ist der Schlüssel zum Therapieerfolg. Die Frage, wie diese am besten gelingt, ist allerdings nicht so leicht zu beantworten. Alle Parameter, die für ein entzündliches Geschehen sprechen – u.a. Zahl der Schübe und kontrastmittelaufnehmende Läsionen im MRT – sind ein Argument für eine aktivere Therapie, meinte Prof. Meuth. Auch schlechtes Ansprechen auf Kortison ist für ihn – „ aus dem Bauch heraus“ – ein Grund, aktiver zu behandeln.
Aus dem Auditorium kam die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für eine Deeskalation der Therapie. Schließlich fragen ja auch die Patienten häufig, ob sie die Behandlung nicht beenden oder wenigstens pausieren können. Leider kann man mangels Studien derzeit keine klaren Empfehlungen formulieren, bedauerte Prof. Bittner. „Wenn ein Patient von sich aus sagt, ich setze jetzt ab, ist das okay. Aber wir sollten zumindest eine Verlaufskontrolle und ein MRT nach drei bis sechs Monaten heraushandeln, damit man ihn wieder einfangen kann, wenn doch etwas passiert.“
Kein schwerer Schaden durch Auslassversuch zu erwarten
Als Entscheidungshilfe nutzt man in der Mainzer Klinik auch das Patientenalter, weil die MS mit steigendem Alter weniger aktiv wird. Patient über 50 Jahre und fünf Jahre kein Schub, keine MRT-Aktivität, keine EDSS-Progression – dann kann man übers Absetzen reden.
„Ich würde das unterschreiben“, pflichtete Prof. Meuth bei. Für Ärzte sei Nichtstun aber natürlich eine Herausforderung. Bei sorgfältiger Abwägung sei ein Absetzen der Medikation aber kein Grund zur Sorge. „Patienten, die mit einem schweren Schaden aus dem Auslassversuch gehen – einem nicht beherrschbaren Schub oder einer massiven Zunahme der Läsionen – habe ich nur sehr selten gesehen.“
Quellen:
1. Chung KK et al. Ann Neurol 2020; 87: 63-74; DOI: 10.1002/ana.25637
2. Luna G et al. JAMA Neurol 2020; 77: 184-191; DOI: 10.1001/jamaneurol.2019.3365
3. Hauser SL et al. Neurology 2020; 95; DOI: 10.1212/WNL.0000000000010376
4. Wolinsky JS et al. Lancet Neurol 2020; DOI: 10.1016/S1474-4422(20)30342-2
5. Kongressbericht in Der Neurologe 2020; 21: 5; DOI: 10.1007/s15202-020-2895-z
6. He A et al. Lancet Neurol 2020; 19: 307-316; DOI: 10.1016/S1474-4422(20)30067-3
7. Hauser SL et al. N Engl J Med 2020; 383: 546-557; DOI: 10.1056/NEJMoa1917246
8. Muraro PA et al. JAMA Neurol 2017; 74: 459-469; DOI: 10.1001/jamaneurol.2016.5867
Kongressbericht: 93. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Online-Veranstaltung)
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