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Kampf gegen die Piep-Show

Als chronisch gilt ein Tinnitus, wenn die Symptome länger als drei Monate anhalten. Eine entscheidende Bedeutung in der Genese kommt dem Hörverlust zu (s. Kasten). Mehr als 90 % der Patienten weisen ein solches Defizit auf. Fast die Hälfte klagt zudem über eine erhöhte Empfindlichkeit für Geräusche, erklären Prof. Dr. Gerhard Hesse vom Krankenhaus Bad Arolsen und Prof. Dr. Birgit Mazurek von der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die volkstümlich Ohrensausen genannte Erkrankung macht sich meist als Pfeifton im gleichen Hochfrequenzbereich wie die Einschränkung des Gehörs bemerkbar.
Pathogenese des Pfeifens
Der Tinnitus ist ein Zeichen der gestörten Hörverarbeitung. Betroffene nehmen akustische Phänomene wahr, die nicht von äußeren Geräuschen herrühren, sondern überwiegend von geschädigten Haarzellen in der Cochlea stammen. Meist werden diese repetitiven Dauerreize oder Spontanaktivitäten habituiert, also subkortikal weggefiltert. Wenn nicht, wird dem Tinnitus eine besondere Bedeutung beigemessen – möglicherweise mit Krankheitswert.
Bei der Abklärung steht eine fundierte HNO-ärztliche Basisdiagnostik an erster Stelle. Sie sollte die individuellen Besonderheiten der Hörwahrnehmung, eine Hypakusis und etwaige psychosomatische Begleiterkrankungen erfassen. Zudem gilt es zu klären, wie stark das anhaltende Ohrgeräusch den Patienten im Alltag belastet. Ergänzend wird eine orientierende Untersuchung von Gleichgewichtsorgan, Kauapparat und Halswirbelsäule empfohlen.
Die Grundlage der Therapie bildet eine sorgfältige Beratung des Patienten. Diese kann etwaige Ängste, aber auch überzogene Heilungserwartungen abbauen. Die Betroffenen müssen wissen, dass es sich bei ihrem Leiden um eine gutartige Erkrankung handelt. Die Aussage, es gebe keine Therapiemöglichkeiten, ist falsch und frustriert nur. Stattdessen sollten die Kranken zu einem konstruktiven Umgang mit ihrem Tinnitus angeregt werden. Das Counselling erleichtert die Gewöhnung an das Geräusch und hilft, einen Circulus vitiosus zu vermeiden.
Eine entscheidende Bedeutung kommt dem Ausgleich des Hörverlustes zu. Das Vorgehen hängt vom Ort der Schädigung ab: Bei einer Mittelohrschwerhörigkeit hilft eventuell eine Operation. Patienten mit Innenohrschädigung benötigen eine apparative Versorgung, je nach Ausprägung mit einem Hörgerät oder Cochlea-Implantat. Auch wenn das auditorische Defizit nicht der Hauptstörfaktor ist oder vom Betroffenen nicht als solcher wahrgenommen wird, kann eine hörverbessernde Therapie die Belastung durch das Pfeifen im Ohr deutlich reduzieren.
Außerdem empfehlen die Autoren eine tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie. Sie verbessert die oft erheblich eingeschränkte Lebensqualität und mindert störende Begleitsymptome wie Angst und Depressivität. Für andere psychodynamische Verfahren gibt es zwar noch keine gute Evidenz, positive Katamnesedaten sprechen aber für eine Wirksamkeit.
Bei schwerer Beeinträchtigung stationäre Therapie
Die Psychotherapie wird häufig mit Entspannungsverfahren kombiniert und kann einzeln oder in der Gruppe erfolgen. Der Nutzen internetbasierter Angebote mit speziellen Apps ist mangels Studien noch nicht gesichert. Bei schwerer Dekompensation (Hilflosigkeit, Komorbiditäten) empfehlen die Verfasser eine (teil-)stationäre Behandlung.
Die Tinnitus-Retrainingtherapie wirkt nach derzeitiger Datenlage nur bei einer längerfristigen Anwendung. Auf die zusätzliche Verordnung klangerzeugender Noiser kann man verzichten.
Eine evidenzbasierte medikamentöse Behandlung ist nach Einschätzung der Autoren beim chronischen Tinnitus derzeit nicht möglich. Für die Applikation von Steroiden fehlt der Wirksamkeitsnachweis ebenso wie für rheologische und vasoaktive Substanzen wie Betahistin, Pentoxifyllin und Hydroxyethylstärke (HAES). Auch für Ginkgo-biloba-Extrakte konnte bisher kein Effekt gesichert werden. Gleiches gilt für Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel. Sinnvoll ist eine Therapie mit Antidepressiva: Sie wirkt zwar nicht direkt gegen den Tinnitus, lindert aber aggravierende Begleiterkrankungen wie Depression und Angststörung.
Inzwischen wurden auch neuromodulatorische Verfahren entwickelt, die über eine Veränderung der kortikalen Erregungsmuster wirken sollen. Das kann beispielsweise durch eine direkte elektrische Reizung oder repetitive transkranielle Magnetstimulation gelingen. Auch ein bimodaler Ansatz mit akustischer Stimulation der Hörbahn und gleichzeitiger elektrischer Anregung des Vagus- oder Trigeminusnervs erscheint möglich. Eine Wirkung wurde für die Neuromodulation bisher jedoch nicht nachgewiesen. Die dazu durchgeführten Studien haben häufig sehr kleine Fallzahlen und fast nie eine gute Placebokontrolle.
Für den Einatz von verfremdeter Musik und Geräuschen (z.B. tailor-made-notched music) und die entsprechenden Geräte (Noiser) fehlt nach Einschätzung der Autoren ebenfalls die wissenschaftliche Evidenz. Von einer Empfehlung ist deshalb abzuraten.
Quelle: Hesse G, Mazurek B. Dtsch Med Wochenschr 2022; 147: 682-686; DOI: 10.1055/a-1780-4882
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