Depression
Depressionen gehören mit zu den häufigsten Erkrankungen. Man versteht darunter psychische Störungen, die durch einen Zustand deutlich gedrückter Stimmung, Interesselosigkeit und Antriebsminderung über einen längeren Zeitraum gekennzeichnet sind. Damit verbunden treten häufig verschiedenste körperliche Beschwerden auf.
Depressive Menschen sind durch ihre Erkrankung meist in ihrer gesamten Lebensführung beeinträchtigt. Es gelingt ihnen nicht oder nur schwer, alltägliche Aufgaben zu bewältigen, sie leiden unter starken Selbstzweifeln, Konzentrationsstörungen und Grübelneigung. Depressionen gehen wie kaum eine andere Erkrankung mit hohem Leidensdruck einher, da diese Erkrankung in zentraler Weise das Wohlbefinden und das Selbstwertgefühl von Patienten beeinträchtigt. Die Suizidrate ist etwa 30 mal höher als in der Durchschnittsbevölkerung, was der Hauptgrund für die erhöhte Mortalität bei Depressionen ist.
Die Heterogenität der Symptome depressiver Störungen macht es unwahrscheinlich, dass ein Faktor allein für die Entstehung einer Depression verantwortlich ist. Daher werden von der Mehrzahl der Experten multifaktorielle Erklärungskonzepte angenommen, die von einer Wechselwirkung aus biologischen und psychosozialen Faktoren ausgehen.
Depressionen können grundsätzlich in jedem Lebensalter auftreten. 50 % der Patienten erkranken erstmals vor dem 31. Lebensjahr. In höherem Lebensalter ist die Depression die häufigste psychische Erkrankung. Typisch ist ein episodischer Verlauf, d.h. die Krankheitsphasen sind zeitlich begrenzt und klingen häufig auch ohne therapeutische Maßnahmen wieder ab. In 50 % der Fälle kommt es nach der Ersterkrankung im weiteren Verlauf zu mindestens einer weiteren depressiven Episode (rezidivierende Depression). Folgen die Depressionen einem saisonalen Muster, spricht man von saisonal bedingten Depressionen.
Weitere Verlaufsformen sind:
- depressive Episode mit unvollständiger Remission
- Dysthymie (mindestens seit zwei Jahren bestehende subsyndromale depressive Symptomatik)
- Chronische depressive Episode (depressive Episode hält zwei Jahre ohne Besserung an)
Ungünstig auf die Prognose wirkt sich das Vorliegen einer psychischen (z.B. Substanzmissbrauch, Angst- oder Essstörungen) oder somatischen Komorbidität (chronische Erkrankungen) aus. Weitere ungünstige Faktoren sind junges Alter bei Ersterkrankung, weibliches Geschlecht, lediger Familienstatus und mangelhafte soziale Unterstützung.
Von unipolarer Depression spricht man (in Abgrenzung zur bipolaren Störung), wenn keinen manischen, gemischten oder hypomanischen Phasen vorkommen. Die ICD-10 trifft für depressive Episoden eine Schweregradunterscheidung von leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) und schweren (F32.2) depressiven Episoden. Der Schweregrad richtet sich dabei nach den erfüllten Haupt- und Zusatzsymptomen.
Hauptsymptome depressiver Episoden (nach ICD-10) sind:
Depressive, gedrückte Stimmung, z.B.
- Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung
- Gefühl der Gefühllosigkeit (kein Freuen über positive Ereignisse, kein Empfinden von Trauer)
- 70-80 % berichten auch über Angstgefühle (meist Verunsicherung, Zukunftsangst)
- oft ausgeprägtes „Morgentief“
Interessenverlust und Freudlosigkeit (Anhedonie)
- Rückgang des Aktivitätsniveaus
- bezieht sich auf Alltagsbereiche (Haushalt, Körperpflege oder Berufstätigkeit) oder auch auf vorher geliebte Hobbies und Freizeitaktivitäten
Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit
- Ermüdung oft selbst nach kleinen Anstrengungen (z.B. Waschen, Anziehen)
- Aktivitätseinschränkung
- Patienten empfinden sich als kaum belastbar
- häufig sozialer Rückzug (z.T. ins Bett)
Zusatzsymptome sind nach ICD -10:
- verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
- negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
- Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen
- Schlafstörungen
- verminderter Appetit
Zusätzlich kann ein somatisches Syndrom diagnostiziert werden, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet:
- Interessenverlust oder Verlust der Freude an normalerweise angenehmen Aktivitäten
- mangelnde Fähigkeit, auf eine freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren
- frühmorgendliches Erwachen, zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit
- Morgentief
- objektive Befund einer psychomotorischen Hemmung oder Agitiertheit
- deutlicher Appetitverlust
- Gewichtsverlust (häufig mehr als 5% des Körpergewichts im vergangenen Monat)
- deutlicher Libidoverlust
Zusätzlich können (insbesondere bei schweren depressiven Episoden) auch Wahnsymptome bestehen, z.B.
- Versündigung, Verarmung, Katstrophen (für die man selbst verantwortlich ist)
- hypochondrischer Wahn (Überzeugung unheilbar krank zu sein)
- selten auch Halluzinationen
Häufige psychische Komorbiditäten sind:
- Angst- und Panikstörungen
- Alkohol,- Medikamenten- und Drogenabhängigkeit
- Essstörungen
- somatoforme Störungen
- Persönlichkeitsstörungen (vor allem ängstlich-vermeidend)
- Zwangsstörungen
Somatische Komorbiditäten:
- erhöhte Prävalenz bei nahezu allen chronischen somatischen Erkrankungen
- erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (und Mortalität) bei hohen Depressionswerten
Der körperliche Befund ist bei Depressionen (außer bei Komorbidität) in der Regel unauffällig.
Häufig klagen Patienten aber über eine Vielzahl somatischer Symptome wie allgemeines Unwohlsein, Schlafstörungen, Appetitstörungen oder Schmerzen, ohne dass ein organisches Korrelat gefunden wird.
Patienten berichten selten spontan über die typischen Symptome einer Depression. Daher sollten Patienten, die eher unspezifische Beschwerden wie Schlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetitminderung, allgemeine Kraftlosigkeit, anhaltende Schmerzen und/oder körperliche Beschwerden angeben, aktiv auf das mögliche Vorliegen einer Depression untersucht werden.
Für ein ersten Screening hat sich der „2-Fragen-Test“ bewährt:
1.Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig bedrückt oder hoffnungslos?
2.Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?
Werden beide Fragen mit „ja“ beantwortet müssen alle Haupt- und Zusatzsymptome abgefragt werden.
Für die Diagnose einer depressiven Episode müssen mindestens zwei (bei schweren Episoden drei) Hauptsymptome über mindestens zwei Wochen anhalten. Kürzere Zeiträume können auch berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer sind oder sehr schnell aufgetreten sind.
Der Schweregrad richtet sich ansonsten nach der Anzahl der Zusatzsymptome:
Leicht: mindestens 2 Zusatzsymptome
Mittelgradig: 3-4 Zusatzsymptome
Schwer: 3 Hauptsymptome plus mindestens 4 Zusatzsymptome
Bei leichten und mittelgradigen Episoden kann zusätzlich ein somatisches Syndrom diagnostiziert werden, wenn mindestens vier typische Merkmale festgestellt werden. Bei Patienten mit schweren Episoden ist immer von einem somatischen Syndrom auszugehen.
Eine rezidivierende Depression liegt vor, wenn es neben der gegenwärtigen Episode mindestens eine weitere in der Vorgeschichte gab.
Bei Patienten mit depressiven Symptomen sollten bei jedem Arztkontakt aktiv und empathisch nach möglichen Suizidgedanken gefragt und das Suizidrisiko eingeschätzt werden. Bei akuter Suizidgefährdung (und fehlender Absprachefähigkeit bis zum nächsten Termin) kann eine notfallmüßige Überweisung in eine psychiatrische Einrichtung notwendig sein.
Das Ansprechen auf eine Psycho- oder Pharmakotherapie sollte regelmäßig überprüft werden. Dazu stehen viele bewährte evaluierte Skalen zur Eigen- und Fremdanamnese zur Verfügung.
Differenzialdiagnosen
- Negativsymptome der Schizophrenie
- Bipolare Störung
- multiple psychische und körperliche Krankheiten mit Schwäche, Schlafstörungen, Appetitmangel, Konzentrationsmangel etc.
- beginnende Demenz
- depressive Anpassungsstörung (z.B. Trauerreaktion nach Verlust des Partners)
- organische depressive Störung (z.B. bei MS, Schlaganfall, Hypothyreose)
- depressive Symptome im Rahmen von anderen psychischen Erkrankungen
Allgemeine Behandlungsziele bei Depressionen sind:
- die Symptome der depressiven Störung zu vermindern und letztlich eine vollständige Remission zu erreichen
- die Mortalität, insbesondere durch Suizid zu verringern
- die berufliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit und Teilhabe wiederherzustellen
- das seelische Gleichgewicht wieder zu erreichen
- die Wahrscheinlichkeit für einen direkten Rückfall oder eine spätere Wiedererkrankung zu reduzieren
Alle Patienten und ihrer Angehörigen sollten umfassend über das Wesen der Erkrankung aufgeklärt werden (Psychoedukation).
Die Wahl der geeigneten Behandlungsalternative richtet sich nach klinischen Faktoren, wie der Symptomschwere und dem Erkrankungsverlauf sowie der Patientenpräferenz.
Grundsätzlich gibt es vier primäre Behandlungsstrategien:
- aktiv-abwartende Begleitung („watchful waiting“ oder „niederschwellige psychosoziale Interventionen“)
- medikamentöse Behandlung
- psychotherapeutische Behandlung
- Kombinationstherapie (Pharmako- und Psychotherapie)
Unterschieden werden folgende Behandlungsphasen:
Akuttherapie: in der Regel 6-12 Wochen vom Beginn der Behandlung bis zum Abklingen der Symptome
Erhaltungstherapie: in der Regel 4-9 Monate nach Remission (zur Senkung des Rezidivrisikos empfohlen), gleiches Antidepressivum in gleicher Dosierung wie bei (erfolgreicher) Akuttherapie
Rezidivprophylaxe: dauerhafte Therapie bei erhöhtem Rezidivrisiko (z.B. bei Restsymptomen)
1. Niederschwellige psychosoziale Interventionen
Dazu gehören z.B.
- angeleitete Selbsthilfe
- Technologie-gestützte psychososoziale Interventionen (z.B. Computer-basierte kognitive Verhaltenstherapie cKVT)
2. Pharmakotherapie:
Zur Akutbehandlung einer akuten mittelgradigen Episode sollte Patienten ein Antidepressivum angeboten werden – bei schweren Episoden eine Kombination von Pharmako- und Psychotherapie. Bei leichten depressiven Episoden sollten in der Regel keine Antidepressiva zur Erstbehandlung eingesetzt werden.
Zur Akutbehandlung einer depressiven Störung steht eine große Zahl von in Deutschland zugelassenen Medikamenten zur Verfügung, die je nach ihrer Strukturformel oder ihrem spezifischen Wirkmechanismus in verschiedene Klassen unterteilt werden:
- Tri- (und tetrazyklische) Antidepressiva (TZA) bzw. nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI)
- Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI)
- Monoaminoxidase (MAO)-Inhibitoren (MAOI)
- Selektive Serotonin-/Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNRI)
- Alpha-2-Rezeptor-Antagonisten
- Selektive Noradrenalin-Dopamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (Bupropion)
- Melatonin-Rezeptor-Agonisten (MT1/MT) und Serotonin 5-HT2C-Rezeptor-Antagonisten (Agomelatin)
Weitere medikamentöse Therapiemöglichkeiten sind:
- Lithium (zur Augmentation oder Phasenprophylaxe)
- Johanniskraut (evtl. bei leichten oder mittelgradigen Episoden)
Wichtige Auswahlkriterien sind Nebenwirkungsprofil, Ansprechen bei früheren Krankheitsepisoden, Handhabbarkeit, Komorbidität und Komedikation sowie Patientenpräferenz.
Nach Erreichen der Standarddosis sollte in der Regel vier Wochen (bei älteren Patienten 6-8 Wochen) abgewartet werden, um die Wirksamkeit zu beurteilen. Bei Nichtansprechen ist der Wechsel des Antidepressivums Mittel der ersten Wahl.
Insbesondere zu Beginn der Behandlung mit Antidepressiva ist es wichtig auf mögliche Symptome einer erhöhten Suizidalität zu achten.
Antidepressiva sollten nicht abrupt abgesetzt werden, sondern die Dosis schrittweise über vier Wochen reduziert werden.
Bei Patienten mit zwei oder mehr depressiven Episoden in der jüngsten Vergangenheit (mit bedeutsamen funktionellen Einschränkungen) empfiehlt sich eine Langzeitprophylaxe über mindestens zwei Jahre. Beim Wechesl eines Antidepressivum sollte immer zuerst eine andere Einzelsubstanz verordnet werden – in der Regel aus einer anderen Stoffklasse. Auch bei Dysthymie und chronischer Depression sollte den Patienten eine Pharmakotherapie angeboten werden.
Psychotherapie
Bei länger anhaltenden leichten sowie bei mittelschweren depressiven Episoden sollte als Alternative zur Pharmakotherapie eine Psychotherapie angeboten werden. Dies gilt auch für ältere Patienten über 65 Jahre. Bei schweren Episoden ist in der Regel eine Kombination von Psych- und Pharmakotherapie angezeigt.
Folgende Psychotherapieverfahren kommen bei leichten bis mittelschweren depressiven Episoden in Frage:
- Kognitive Verhaltenstherapie
- interpersonelle Psychotherapie
- psychodynamische Kurzzeittherapie
- analytische Langzeitpsychotherapie
- Gesprächspsychotherapie
Zur Akuttherapie bei schwerer Depression werden empfohlen:
- Kognitive Verhaltenstherapie
- interpersonelle Psychotherapie
Weitere Maßnahmen:
Lichttherapie
- vor allem bei saisonaler Depression
- Lichtintensität > 2.500 Lux
Körperliches Training
- möglichst in Form eines supervidierten strukturierten körperlichen Trainings
repetitive Transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
- Behandlungsversuch bei Patienten, die nicht auf ein primäre Pharmakotherapie angesprochen haben
Als unterstützende Maßnahmen können zusätzlich Ergo- und Soziotherapie angeboten werden. Evtl. kommt auch eine häusliche psychiatrische Krankenpflege in Frage.
Elektrokonvulsive Therapie (EKT)
- bei therapieresistenten Depression
- als Primärtherapie bei sehr schweren depressiven Episoden, wenn andere Behandlungen kontraindiziert sind oder ein hohes Risiko beinhalten, die Behandlung besonders dringlich ist, der Patient es ausdrücklich wünscht oder sehr gute Vorerfahrungen vorliegen
Vagus-Nerv-Stimulation
- Evidenz laut Leitlinien noch nicht ausreichend
Eine Prävention der Depression ist nicht bekannt.
Bei akuter Suizidgefährdung (und fehlender Absprachefähigkeit bis zum nächsten Termin) kann eine notfallmäßige Überweisung in eine psychiatrische Einrichtung notwendig sein.
S3-Leitlinie/NVL
Unipolare Depression
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