Alkoholkrankheit
Regelmäßiger Alkoholkonsum gehört bei uns mit zu den größten Gesundheitsrisiken. Man geht in Deutschland von rund 1,9 Millionen Alkoholabhängigen und zusätzlichen 1,6 Millionen mit „schädlichem Gebrauch von Alkohol“ aus.
Alkoholbedingte Folgeerkranken sind vielfältig und können so gut wie alle Organsysteme betreffen. Hinzu kommen psychische und soziale Folgen eines übermäßigen Alkoholkonsums. Jährlich versterben pro Jahr in Deutschland 74.000 Menschen an den Folgen eines zu hohen Alkoholkonsums.
Man unterscheidet verschiedene Klassen von Alkoholkonsum:
Risikoarmer Konsum:
Die Grenzwerte für einen „risikoarmen“ Alkoholkonsum liegen in Deutschland bei bis zu 24 g reinem Alkohol pro Tag bei Männern (entsprechend z.B. 2 Gläsern Bier à 0,33 ml) und bis zu 12 g bei Frauen (z.B. 1 Glas Bier à 0,33 ml). Einen „risikofreien“ Alkoholkonsum gibt es demnach nicht.
Riskanter Konsum:
Bei gesunden Erwachsenen wird ein täglicher Konsum von 24 g Reinalkohol (Männer) bzw. 12 g Reinalkohol (Frauen) als Grenze angesehen – bei einem höherem Konsum steigt das Risiko für Folgeerkrankungen und man spricht von einem riskanten Konsum. Diese Grenzwerte gelten nicht für Kinder, Jugendliche, Schwangere oder Patienten mit körperlichen Erkrankungen.
Rauschtrinken (binge drinking):
Dies ist eine sehr risikoreiche Form des Alkoholkonsums, bei der in kurzer Zeit sehr große Alkoholmengen konsumiert werden. Bei Männern sind das fünf oder mehr Standardgetränke pro Trinkgelegenheit, bei Frauen vier oder mehr. Diese Form des Trinkens findet man bei Männern doppelt so häufig wie bei Frauen.
Akute Intoxikation
Darunter versteht man einen akuten Rausch nach Aufnahme von Alkohol. Dabei kommt es zu Störungen des Bewusstseins, der kognitiven Funktionen, der Wahrnehmung, des Verhaltens oder anderer psychophysiologischer Funktionen oder Reaktionen.
Schädlicher Alkoholgebrauch
Ein schädlicher Alkoholgebrauch kann diagnostiziert werden, wenn durch den Alkoholgebrauch nachweislich eine Folgeschädigung der psychischen oder physischen Gesundheit aufgetreten ist. Eine „akute Intoxikation“ oder ein „Kater“ reichen für die Diagnose noch nicht aus.
Alkoholabhängigkeitssyndrom
Zur Diagnose eines „Alkoholabhängigkeitssyndroms“ müssen mindestens drei der folgenden Kriterien während des letzten Jahres gemeinsam erfüllt gewesen sein:
1. Ein starkes Verlangen oder eine Arzt Zwang, Alkohol zu konsumieren
2. Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren (in Bezug auf Beginn, Beendigung und Menge des Konsums)
3. Körperliches Entzugssyndrom, wenn Alkohol reduziert oder abgesetzt wird – nachgewiesen durch alkoholspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme von Alkohol, um solche Symptome zu vermeiden.
4. Toleranzentwicklung gegenüber der Wirkung
5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten der Alkoholeinnahme. Es wird viel Zeit damit verbracht, Alkohol zu besorgen, zu konsumieren oder sich von dem Konsum zu erholen.
6. Fortdauernder Alkoholkonsum trotz Nachweis eindeutiger schädlicher Folgen wie Leberschäden, wobei sichergestellt werden muss, dass der Patient sich über den Zusammenhang im Klaren ist.
Alkoholentzugssyndrom
Symptomenkomplex, der bei relativem oder absolutem Entzug von Alkohol entsteht, nachdem Alkohol über längere Zeit in höheren Dosen konsumiert wurde. Typische Symptome sind z.B. Zittern, Unruhe, Schwitzen, Schlafstörungen, Kreislaufprobleme bis hin zu Krampfanfällen oder Delir.
Außer im Falle einer akuten Intoxikation oder eines Alkoholentzugssyndroms findet man bei der körperlichen Untersuchung nicht unbedingt Hinweise auf einen riskanten oder schädlichen Alkoholkonsum.
Bei schädlichem Konsum mit Folgeschäden können sich klinische Zeichen der Leberschädigung zeigen.
Zum Nachweis eines aktuellen Alkoholkonsums (z.B. Hausarzt, stationäre Aufnahme, Notaufnahme, präoperatives Screening, forensiche Fragen) eignet sich die Bestimmung von Ethylalkohol in Ausatemluft und Blut oder im Urin am besten.
Ein chronischer Alkoholkonsum kann durch die Bestimmung des Alkoholmetaboliten Ethylglucoronid (EtG) in Haaren oder Phosphatidylethanol (PEth) in Vollblut nachgewiesen werden. Die Bestimmung EtG in Haaren erlaubt es, zwischen chronisch-exzessivem und moderatem Alkoholkonsum sowie Abstinenz bzw. sehr geringem Alkoholkonsum zu unterscheiden.
Indirekte Marker für einen chronischen Alkoholkonsum sind:
Gamma-Glutamyl-Transferase (GGT):
- Erhöhung bei 60 bis 80% der alkoholabhängigen Patienten
- Für eine Überschreitung der Normwerte ist eine chronische tägliche Alkoholzufuhr über mindestens 6-8 Wochen erforderlich
- Normalisierung nach drei Wochen bis 60 Tagen völliger Alkoholabstinenz
- Erhöhung auch durch zahlreiche andere Ursachen möglich
Carbohydrat-Defizientes Transferrin (CDT)
- Erhöhung bei täglichem Konsum von 60-80 g Alkohol über 7 Tage
- sehr unterschiedliche Angaben zur Sensitivität und Spezifität
- bei den meisten Patienten mit Lebererkrankungen nicht erhöht
Serum-Transaminasen (ASAT/ALAT)
- unspezifische Zeichen einer hepatozytischen Schädigung
- Toxische Wirkung von Alkohol auf Mitochondrien führt zu stärkerer Freisetzung von ASAT im Vergleich zu ALAT
- ASAT/ALAT-Quotient über 1 (oder gar über 2) deutet auf alkoholtoxische Ätiologie
- Beurteilung hauptsächlich im Kontext mit anderen Parametern
Mittleres korpuskuläres Erythrozytenvolumen (MCV)
- Erhöhung bei 4% in der Allgemeinbevölkerung und 40-60% der Patienten mit Alkohol-bezogenen Störungen
- Erhöhung vor allem bei langandauerndem Alkoholkonsum, nur langsame Normalisierung nach Abstinenz
- zahlreiche andere Ursachen möglich
Erfassung des Alkoholkonsums
Alle Patienten zwischen 14 und 70 Jahren sollten bei Arztkontakten auf ihren Alkholkonsum angesprochen werden. Als Screening-Instrument für die Erfassung eines riskanten Alkoholkonsums, eines schädlichen Alkoholgebrauchs oder einer Alkholabhängigkeit sollte der Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) in Lang- oder Kurzform angewandt werden.
Hier muss vor allem zwischen den verschiedenen Formen des Alkholkonsums unterschieden werden (siehe Symptome).
Kurzinterventionen
- sollen Mensch mit problematischem Alkoholkonsum in nicht-spezialisierten Settings zur Trinkmengenreduktion oder ggf. Abstinenz motivieren
- Dauer bis zu 60 min. bei bis zu 5 Sitzungen
- zielen auf Verringerung des Alkoholkonsums und alkoholbedingter Probleme
- personalisiertes Feedback, individuelle Zielsetzung, konkrete Ratschläge
- ergänzt durch Informationsmaterial oder Computerunterstützung
Körperliche Entgiftung und qualifizierte Entzugsbehandlung
Körperliche Entgiftung:
- bei Alkoholintoxikation mit körperlich/neurologischen Ausfallerscheinungen und/oder Alkoholentzugssyndromen
- Ziel ist Sicherstellung von Vitalfunktionen und Vermeidung von Komplikationen sowie Linderung von Entzugssymptomen
Qualifizierte Entzugsbehandlung
- suchtpsychiatrische bzw. suchtmedizinische Akutbehandlung, die über die körperliche Entgiftung hinausgeht
- Diagnostik und Behandlung von psychischen und somatischen Begleit- und Folgeerkrankungen
- psycho- und soziotherapeutische Interventionen zur Förderung der Änderungsbereitschaft und –kompetenz sowie Stabilisierung der Abstinenz
- Motivation zur Inanspruchnahme weiterer Hilfen
Die Entzugsbehandlung sollte möglichst stationär erfolgen, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:
- (zu erwartende) schwere Entzugssymptome
- schwere und multiple somatische oder psychische Folge- und Begleiterkrankungen
- Suizidalität
- fehlende soziale Unterstützung
- Misserfolg bei ambulanter Entgiftung
Die pharmakologische Behandlung dient zur Kupierung von akuten Entzugserscheinungen und zur Vermeidung möglicher Komplikationen.
Benzodiazepine:
- reduzieren Häufigkeit und Schwere akuter Entzugssymptome und von Komplikationen wie Delir und Alkoholentzugsanfällen
- empfohlen zur Behandlung des Alkholentzgssyndroms
- bei Schwangeren Mittel der Wahl
- bei deliranten Symptomen wie Agitation, Wahn oder Halluzinationen evtl. in Kombination mit Antipsychotika
Clomethiazol
- reduziert Häufigkeit und Schwere akuter Entzugssymptome und von Komplikationen wie Delir und Alkoholentzugsanfällen
- empfohlen zur stationären Behandlung des Alkoholentzgssyndroms
- nicht zugelassen für die ambulante Therapie
- keinesfalls mit Benzodiazepinen kombinieren
Antikonvulsiva
- Carbamazepin, Valproinsäure, Gabapentin und Oxcarbazepin können zur Therapie leicht-bis mittelgradiger Alkoholentzugssyndrome zur Verhinderung von Entzugskrämpfen eingesetzt werden
Neuroleptika
- empfohlen beim akuten Alkoholdelir mit Wahn und Halluzinationen (z.B. Haloperidol)
- keine Wirkung auf vegetative Entzugssyndrome, deshalb immer in Kombination z.B. mit Benzodiazepinen oder Clomethiazol Betablocker und Clonidin
- nicht als Monotherapie
Tiapridex
- kann in Kombination mit einem Antikonvulsivum zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Alkoholentzugssymptome eingesetzt werden
Thiamin
- empfohlen zur Prophylaxe der Wernicke-Enzephalopathie
Ausdrücklich nicht empfohlen in der Alkoholentzugsbehandlung werden Baclofen (unzureichende Studienlage), Gamma-Hydroxybuttersäure (ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis) und Alkohol als Medikament.
Nach der postakuten Interventionsphase sollte den Patienten eine nahtlose weiterführende Behandlung angeboten werden. Abstinenz ist dabei die übergeordnete Zielsetzung – erscheint dies nicht möglich, sollte zur Schadensminimierung eine deutlich Reduktion der Trinkmenge angestrebt werden. Dazu können gehören:
- kognitive Verhaltenstherapie
- Kontingenzmanagement
- Angehörigenarbeit / Paartherapie
- psychodynamische Kurzzeittherapie
- neurokognitves Training
- Multimodale Komplexhandlung bei Alkoholabhängigkeit
- im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes möglicherweise Therapie mit Acamprosat oder Naltrexon zur Rückfallprophylaxe
Zur Prävention dienen Aufklärungskampagnen (z.B. an Schulen) über die Gefahren des Alkoholkonsums. Weitere präventive Maßnahmen wären eine Erhöhung der Alkoholsteuer oder ein rigoroses Verbot von Alkoholwerbung, was aber in Deutschland anders als in anderen europäischen Ländern noch nicht umgesetzt wurde.
Das frühzeitige Erkennen eines problematischen Alkoholkonsums und entsprechende niedrigschwellige Therapieangebote könnten zur Prävention von Folgeerkrankungen beitragen.
Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN):
S3-Leitlinie "Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen"
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