Bipolare Störung

Definition

Die bipolare Störung ist eine Erkrankung, bei der sich depressive Episoden mit manischen bzw. hypomanischen Phasen abwechseln. Bei der Mehrzahl der Patienten überwiegen die depressiven Phasen. Es handelt sich um eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung mit oft rezidivierendem Verlauf und erheblicher Komorbidität. Häufig kommt es zu suizidalen Handlungen.

Die Lebenszeitprävalenz liegt bei etwa 3%. Häufig beginnt die Erkrankung bereits im jugendlichen und jungen Erwachsenenalter.

Die Rezidivrate bipolarer Erkrankungen ist hoch, wobei der Verlauf individuell sehr variabel ist. Ein großer Teil der Patienten erleidet einige wenige Phasen, rund 10% aber auch mehr als 10 Episoden. Viele Patienten zeigen auch Residualsymptome, die das Risiko für erneute Episoden erhöhen und zur dauerhaften Beeinträchtigung des sozialen Funktionsniveaus führen können.

Eine besonders schwerwiegende Form der Erkrankung ist das Rapid Cycling, welches durch einen schnellen Wechsel von Phasen verschiedenen Typs gekennzeichnet ist und bis zu 20% der Patienten (vor allem Frauen) betrifft.

Bei bipolaren Störungen besteht eine besonders ausgeprägte Komorbidität mit anderen psychischen Störungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, Impulskontrollstörungen. Essstörungen, ADHS und Persönlichkeitsstörungen. Auch einige somatische Erkrankungen kommen bei bipolaren Störungen gehäuft vor – dazu gehören kardiovaskuläre Erkrankungen, metabolisches Syndrom, Typ-2-Diabetes, muskuloskeletale Erkrankungen und Migräne.

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Symptomatik

Manische Episode:

Dauer: ≥ 1 Woche

Hauptsymptome: gehobene, expansive oder gereizte Stimmung plus 3 (bei Hauptsymptom gereizte Stimmung 4) von 9 weiteren Symptome:

  • Antriebssteigerung
  • Rededrang
  • Ideenflucht
  • reduzierte soziale Hemmungen
  • vermindertes Schlafbedürfnis
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit
  • riskantes Verhalten
  • gesteigerte Libido

Hypomanische Episode

Dauer: ≥ 4 Tage

Hauptsymptome: gehobene oder gereizte Stimmung Plus 3 von 7 weiteren Symptomen:

  • gesteigerte Aktivität oder motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit
  • Konzentrationsschwierigkeiten oder Ablenkbarkeit
  • vermindertes Schlafbedürfnis
  • gesteigerte Libido
  • übertriebene Einkäufe oder andere Arten von leichtsinnigem verantwortungslosem Verhalten
  • gesteigerte Geselligkeit oder übermäßige Vertraulichkeit

Depressive Episode

Dauer: ≥ 2 Wochen

Hauptsymptome: depressive Stimmung, Interessenverlust, Antriebsminderung

4 von 10 Symptomen (davon mindestens 2 Hauptsymptome) müssen erfüllt sein

  • Selbstwertverlust
  • Unangemessene Schuldgefühle
  • Wiederkehrende Gedanken an Tod bzw. Suizidalität
  • kognitive Defizite
  • Psychomotorische Veränderungen
  • Schlafstörungen
  • Appetitstörungen

Gemischte Episode

Dauer: ≥ 2 Wochen

Hauptsymptome: depressive und (hypo)manische Symptome gemischt oder wechselnd

Bei schweren manischen oder depressiven Phasen können zusätzlich psychotische Symptome auftreten. In manischen Phasen sind das meist Größen-, Liebes-, Beziehungs-oder Verfolgungswahn – in depressiven Phasen Schuld-, hypochondrischer, nihilistischer, Beziehungs- oder Verfolgungswahn. Anders als bei Schizophrenie sind die Wahngedanken i.d.R. nicht bizarr oder kulturell unangemessen.

Die Erkrankung beginnt häufig mit depressiven Phasen. Nachfolgende hypomanische Phasen werden oft nicht als beeinträchtigend erlebt und demzufolge auch nicht berichtet. Die Abgrenzung zur unipolaren Depression ist aber wichtig.

Anhaltspunkte für eine bipolare Störung können sein:

  • positive Familienanamnese für bipolare Störungen
  • schwere melancholische oder psychotische Depression im Kindes- und Jugendalter
  • schneller Beginn oder rasche Rückbildung der Depression
  • saisonale oder atypische Krankheitsmerkmale
  • subsyndromale hypomanische Symptome im Rahmen depressiver Episoden
  • hypo-/manische Symptome im zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme von Antidepressiva oder Psychostimulanzien
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Untersuchung

Die körperliche Untersuchung ist in der Regel unauffällig.

Labor

Die korrekte Diagnosestellung ist die Grundvoraussetzung für eine adäquate Behandlung. Für die Diagnose einer Bipolaren Störung nach ICD-10 müssen im Krankheitsverlauf anhand der Diagnosekriterien mindestens zwei eindeutig voneinander abgrenzbare affektive Episoden identifizierbar sein. Daher ist die Diagnosestellung nur im Längsschnitt möglich.

Bei Risikopersonen (z.B. Patienten mit früheren Depressionen, Suizidversuchen, Substanzabusus oder Temperamentsausfälligkeiten) können entsprechende Screeninginstrumente (z.B. Mood Disorders Questionnaire) hilfreich sein. Bei positivem Ergebnis sollte ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hinzugezogen werden.

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Differenzialdiagnostik

Psychische Erkrankungen

  • andere affektive Störungen (unipolare Depression, Dysthymie)
  • Borderline-Persönlichkeitsstörunge
  • ADHS (bei Kindern und Jugendlichen)
  • Verhaltensstörungen (bei Kindern und Jugendlichen)
  • Schizophrenie /schizoaffektive Episode
  • beginnende Demenz (im höheren Lebensalter)

Somatische Erkrankungen

  • Hyperkortisolismus
  • Schilddrüsenerkrankungen
  • Epilepsie
  • Enzephalomyelitis disseminata
  • M. Pick
  • Frontalhirntumoren
  • Neurolues

Pharmakologische Ursachen /Substanzmissbrauch

  • Antidepressiva
  • Psychostimulanzien (z.B. Kokain, Amphetamine, Ectasy)
  • Antihypertensiva (z.B. ACE-Hemmer)
  • Antiparkinson-Mittel
  • Hormonpräparte (z.B. Kortison, ACTH)
Pharmakotherapie und nichtinvasive Therapie

Wichtig ist eine phasenübergreifende tragfähige therapeutische Beziehung. Eine Psychoedukation mit Aufklärung des Patienten und seiner Angehörigen über das Wesen der Erkrankung sollte immer am Anfang stehen.

Psychotherapie bei bipolaren Störungen wird im Regelfall als Ergänzung und nicht als Alternative zur Medikation (Psychopharmakotherapie) anzusehen sein. Keine angemessene akute und/oder phasenprophylaktische Pharmakotherapie anzubieten, ist aus aktueller Sicht therapeutisch nicht vertretbar.

Behandlung der Manie:

Die Akutbehandlung der Manie sollte mit einer Monotherapie mit einer der folgenden für diese Indikation zugelassenen Substanzen begonnen werden:

Stimmungsstabilisatoren

  • Carbamazepin
  • Lithium
  • Valproat (nicht für Frauen im gebärfähigen Alter)

Atypische Neuroleptika

  • Aripiprazol
  • Olanzapin
  • Quetiapin
  • Risperidon
  • Ziprasidon

Haloperidol wird nur in Notfallsituationen und zur Kurzzeittherapie empfohlen.

Eine begleitende Psychotherapie fokussiert auf Kontakt halten – bei leichteren Episoden können auch verhaltensnahe Maßnahmen sinnvoll sein.

Behandlung der Depression

Bei leichten Depressionen besteht nur in Ausnahmefällen die Indikation für eine depressionsspezifische Pharmakotherapie – hier stehen Psychoedukation, Anleitung zum Selbsthilfemanagement und psychotherapeutische Interventionen im Vordergrund. Bei mittelgradigen depressiven Episoden stellt die Psychopharmakotherapie eine wichtige Option dar – bei schweren Episoden muss immer psychopharmakologisch behandelt werden.

Wenn keine Kontraindikationen vorliegen, sollte immer mit einer Monotherapie mit Quetiapin begonnen werden.

Alternative Medikamente sind:

  • Stimmungsstabilisatoren (Carbamazepin, Lamotrigin)
  • Olanzapin
  • SSRI
  • Bupropion

Zusätzlich sollte eine Psychotherapie angeboten werden, z.B.:

  • familienfokussierte Therapie (FFT)
  • kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
  • interpersonelle und soziale Rhythmustherapie (IPSRT)

Phasenprophylaxe

Ziel ist eine völlige Freiheit von depressiven, manischen und gemischten Episoden oder zumindest eine Abschwächung und Verkürzung. Die Pharmakotherapie ist zumeist unverzichtbarer Bestandteil der Phasenprophylaxe.

Wenn keine Kontraindikationen vorliegen, sollte an erster Stelle eine Monotherapie mit Lithium zum Einsatz kommen.

Mögliche Alternativen (wenn die Wirkstoffe in der Akutphase gut verträglich und wirksam waren) sind:

  • Stimmungsstabilisatoren (Carbamazepin, Valproat oder Lamotrigin)
  • atypische Neuroleptika (Aripiprazol, Olanzapin, Risperidon)

Bei unzureichendem Ansprechen können auch Kombinationen zum Einsatz nehmen – auch wenn die Studienlage hier dürftig ist.

Zusätzlich sollte eine begleitende Psychotherapie angeboten werden. Weitere Optionen sind eine Lichttherapie oder Wachtherapie (Schlafentzug).

Zusätzliche unterstützende Therapieformen können sein:

  • Entspannungstherapie
  • Bewegungstherapie
  • Ergotherapie
  • Kunst- und Musiktherapie
  • Tanztherapie
  • Sozialtherapie
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Invasive und Interventionelle Therapie

Elektrokonvulsionstherapie (bei schweren Verläufen manischer und depressiver Episoden)

Hirnstimulationsverfahren

  • repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
  • Vagusnervstimulation

Für beide Formen ist die Studienlage zur Phasenprophylaxe für eine Empfehlung noch nicht ausreichend.

Prävention

Spezifische Präventionsmaßnahmen sind nicht bekannt.

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Notfallmanagement

 Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung muss eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder Abteilung erfolgen – unter Umständen (unter Berücksichtigung der rechtlichen Bedingungen) auch ohne Zustimmung des Patienten.

Leitlinien

Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen (DGBS) und Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)

S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen (2012), letzte Anpassung Januar 2014)

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