Depression Handfeste Argumente für die Heilung durch Berühren
Bereits Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigten sich Forscher wie der Psychoanalytiker René Spitz mit der Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern in Heimen. Die Kinder bekamen dort zwar ausreichend Nahrung und lebten unter guten hygienischen Verhältnissen, erfuhren aber nur wenig körperliche Zuwendung. In der Folge beobachtete er bei den Kindern eine hohe Sterblichkeit und erhebliche Verhaltensauffälligkeiten.
Mangelnder Körperkontakt fördert Depression
Umgekehrt zeigte sich in Studien, dass viel Haut-zu-Haut-Kontakt die körperliche und seelische Entwicklung von kleinen Kindern verbessern kann. Einen Zusammenhang entdeckten Forscher zudem zwischen Art bzw. Intensität von frühem Körperkontakt und dem Risiko, im späteren Leben eine Depression oder andere psychische Störungen zu entwickeln.
Bei der Versorgung von Menschen mit Depression stoßen derzeit verfügbare medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze immer wieder an Grenzen. Unter anderem aus diesem Grund wächst das Interesse an komplementären bzw. integrativen Therapieoptionen. Als besonders aussichtsreich erscheint seit einiger Zeit die Berührungsmedizin. Sie verbindet etablierte Techniken der Physiotherapie, Osteopathie sowie der manuellen Medizin und der Körperpsychotherapie. Besonderes Augenmerk legt sie auf die psychosozialen Aspekte von Gesundheit und Krankheit.
Neben typischen Kennzeichen wie Anhedonie und körperlichen Symptomen (Schmerzen, Brustenge, Schwindel, Herzklopfen, Libidoverlust, Hitzewallungen, Krämpfe etc.) kann es bei einer Depression auch zur Beeinträchtigung des subjektiven Körpererlebens, der sogenannten Interozeption, kommen. Betroffene beschreiben ihre leiblichen Empfindungen als Blockade, Schwere, Leere, Entfremdung oder Lähmung im Kopf bzw. im ganzen Körper. So fanden sich im Rahmen einer systematischen Analyse Hinweise darauf, dass insbesondere Patienten mit mittelschwerer Depression ihre Herzfrequenz im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen signifikant unterschätzen, was auf eine gedämpfte kardiale Interozeption hindeutet.
Die Berührungsmedizin eröffnet über die Haut bzw. den Tastsinn einen unmittelbaren Zugang zum Körpererleben. Aus diesem Grund können entsprechende Techniken nicht nur auf physiologische Abläufe regulierend wirken, sondern auch Verhalten, Emotionen und Kognition positiv beeinflussen.
Oxytocinerges System in der Vermittlerrolle
So wurde in wissenschaftlichen Arbeiten und klinischen Studien die antidepressive, anxiolytische und analgetische Wirkung von speziellen Massagetechniken (z.B. Slow-Stroke-Massage, psychoaktive Massage, affektregulierende Massage) nachgewiesen. Die Vermittlung der antidepressiven und analgetischen Effekte von Massagen läuft vermutlich insbesondere über das oxytocinerge System. So führt bereits eine sanfte Berührung der Haut zur Ausschüttung des nicht ohne Grund als Kuschelhormon bezeichneten Peptids Oxytocin. Dies hat eine Aktivierung der serotonergen Raphe-Kerne sowie der dopaminergen Neurone im Striatum und Nucleus accumbens zur Folge.
Diskutiert wird außerdem die Aktivierung sogenannter C-taktiler Afferenzen, die ihrerseits mit dem interozeptiven System in Verbindung stehen. Bei den CT-Afferenzen handelt es sich um eine strukturell und funktionell unabhängige Gruppe niederschwelliger Mechanorezeptoren in der behaarten Haut. Diese CT-Afferenzen sind nicht myelinisiert und reagieren auf Berührungsqualitäten, die einer zärtlichen Berührung entsprechen (z.B. Streicheln, Liebkosen, Kraulen, sanftes Massieren). Auf psychischer Ebene geht die Aktivierung von CT-Afferenzen mit einem Wohlgefühl einher, das sich der Interozeption zurechnen lässt. Bei optimaler Stimulation werden v.a. kortikale limbische Regionen wie die posteriore Insula aktiviert. Diese spielt wiederum eine zentrale Rolle bei der Integration aller Einzelempfindungen zu einem leiblichen Selbst.
Die Effekte von heilsamen Berührungen sind nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch für eine Vielzahl von anderen Fachbereichen belegt, z.B. Neonatologie, Pädiatrie, Schmerzmedizin, Onkologie und Geriatrie.
Quelle: Müller-Oerlinghausen B et al. Dtsch Med Wochenschr 2022; 147: e32-e40; DOI: 10.1055/a-1687-2445