Magersucht: Schluss mit den alten Zöpfen

Dr. Dorothea Ranft, Foto: thinkstock

Der Blick auf die Magersucht hat sich gründlich gewandelt. Jahrzehntelang galten die Eltern der Betroffenen als „Hauptschuldige“, heute nutzt man erfolgreich ihre Hilfe.

Sie halten sich für dick, obwohl sie spindeldürr sind, essen zu wenig und haben Angst vorm Zunehmen – dies gehört zu den Charakteristika von Magersüchtigen (siehe Kasten). Die Ursachen dieser Erkrankung werden inzwischen jedoch anders als früher gesehen: Aus „Essverweigerung“ wurde in den Klassifikationskriterien „zu geringe Nahrungsaufnahme“, aus „Verleugnung“ fehlende Einsicht und die Amenorrhö hat man ganz gestrichen (mangelnde Spezifität), auch wenn sich an ihrem häufigen Auftreten noch nichts geändert hat.

Sechsfach erhöhte Mortalitätsrate bei Anorexie

Klassifikations-Kriterien der Anorexia nervosa*

  • Eingeschränkte Energieaufnahme, die zu einem Körpergewicht führt, das unter dem Minimum des Normalgewichts (Erwachsene) bzw. des zu erwartenden Gewichts (Kinder, Jugendliche) liegt.

  • Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme bzw. davor, dick zu werden, oder dauerhaftes Verhalten, das einer Zunahme entgegenwirkt – trotz des niedrigen Gewichts.

  • Gestörte Wahrnehmung der eigenen Figur oder des Körpergewichts, übertriebener Einfluss von Gewicht und Figur auf die Selbstbewertung oder anhaltend fehlende Einsicht in den Schweregrad des aktuell niedrigen Gewichts.


*DSM-5 (2013)

Zur Symptomatik der Anorexie, die sich überwiegend beim weiblichen Geschlecht manifestiert, gehört auch extremes Sporttreiben bzw. körperliche Hyperaktivität sowie ein ausgeprägtes Leistungsstreben. Viele Patientinnen sind in Schule und Beruf sehr erfolgreich. Gleichzeitig besteht häufig eine affektive Labilität mit depressiver Verstimmung, so Professor Dr. Beate Herpertz-Dahlmann, RWTH-Aachen*.


Häufig unterschätzt werden die Gefahren dieser Essstörung: Patientinnen mit Anorexia nervosa haben im Vergleich zu Altersgenossen eine sechsfach erhöhte Mortalitätsrate. Die Magersucht ist somit tödlicher als Asthma, Typ-1-Diabetes und alle anderen psychiatrischen Erkrankungen.

Genaue Ursachen immer noch unbekannt

Die Anorexie manifestiert sich meist in der Jugend (40 %), zunehmend aber auch in der Kindheit. Die genauen Ursachen sind noch unbekannt, möglicherweise spielen die Anforderungen des Erwachsenwerdens, aber auch Veränderungen der Östrogenrezeptoren und eine besondere Vulnerabilität durch Fasten (Schlankheitsideal) eine Rolle.


Gesichert scheinen zudem genetische Einflüsse: So ist das Anorexierisiko für weibliche Verwandte ersten Grades sieben- bis zwölffach erhöht und oft finden sich weitere essgestörte Verwandte. Einen wichtigen Einfluss scheint auch der pränatale Testosteronspiegel zu haben. Mädchen mit einem Zwillingsbruder erkranken seltener als solche mit einer Zwillingsschwester. Ein negativer Einfluss familiärer Faktoren konnte dagegen wissenschaftlich nicht gesichert werden, im Gegenteil, die Eltern gelten inzwischen als wichtigste Ko-Therapeuten.

Unterernährung führt zu Pseudoatrophia cerebri

Welche Labor-Diagnostik?

  • Elektrolyte (inkl. Phosphat, Mg, Ca), Glukose, Harnstoff, Kreatinin, Transaminasen, Amylase, Bilirubin, fT3, Blutbild, Vitamin D, Vitamin A, 
Panthothensäure

  • fakultativ: FSH, IGF-1, Leptin

Zur Diagnostik gehören neben Basis-Labor und körperlicher Untersuchung (s. Kasten) auch EKG (Arrhythmien) und Herzecho (Perikarderguss) sowie ggf. MRT und EEG. Entscheidend für die Prognose ist eine möglichst frühe Therapie, mit der sich Langzeitschäden verhindern lassen. So entwickelt sich als Folge der chronischen Unterernährung häufig eine ausgeprägte Pseudoatrophia cerebri. Außerdem behindert der Mangel an Sexualhormonen die Entwicklung wichtiger Hirnareale und hinterlässt so bleibende Narben.

Mögliche 
Anorexie-Symptome

  • Lanugo-Behaarung
  • Dekubitus
  • Alopezie
  • Akrozyanose
  • Kleinwuchs
  • verzögerte pubertäre Entwicklung


Außerdem tragen Anorexie-Patientinnen infolge des gestörten Knochenaufbaus während der Pubertät zeitlebens ein siebenfach erhöhtes Frakturrisiko. Was die Hyperaktivität von magersüchtigen Patientinnen angeht, scheint Leptin eine entscheidende Rolle zu spielen: Beim Fasten sinken die Spiegel dieses Fetthormons, was im Tierexperiment dafür sorgt, dass Laborratten laufen bis zum Umfallen.

Zunehmen gilt wieder als „Conditio sine qua non“

Bei der Behandlung von Anorexie-Patientinnen haben rein tiefenpsychologische Grundsätze (Gewicht spielt keine Rolle) ausgedient. Zunehmen gilt wieder als „Conditio sine qua non“ – wer darauf verzichtet, begeht einen Kunstfehler, betonte Prof. Herpertz-Dahlmann. Eine multimodale Ernährungstherapie soll die Patientin Schritt für Schritt zu einem gesunden Essverhalten führen. Außerdem erfolgt eine psychotherapeutische Behandlung, in die bei Kindern und Jugendlichen auch die Familie einbezogen wird.


Besonders gute Erfolge lassen sich durch die Betreuung in einer Tagesklinik erzielen, wie die Autorin einer eigenen Studie herausfand: Auch nach zweieinhalb Jahren lag die Gewichtszunahme noch signifikant höher im Vergleich zur vollstationären Therapie. Inzwischen werden auch experimentelle Verfahren, etwa die Tiefenhirn­stimulation, mit teils posi­tiven Resultaten bei Anorexie erprobt. Wie wichtig effektive Therapie ist, zeigt eine schwedische Arbeit: Nach 18-jährigem Verlauf waren 25 % der Patientin­nen wegen psychischer Störungen arbeitslos.


* Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters


Quelle: 121. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin

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