Maßnahmen gegen den überfüllten Medikamentenplan

Dr. Elke Ruchalla

Die Evidenz zum Umgang mit Polypharmazie wächst. Die Evidenz zum Umgang mit Polypharmazie wächst. © iStock/Thomas Demarczyk

„Deprescribing“, also das Absetzen oder die Dosisreduktion von Medikamenten im Sinne der Gesundheit, steht hoch im Kurs. Und der Nutzen dieser Maßnahme zeichnet sich immer klarer ab. Anfangen kann man z.B. direkt nach der Entlassung eines Patienten aus der Klinik.

Multimedikation ist bei älteren und alten Patienten ein typisches Problem, erklären Professor Dr. ­Ulrich ­Thiem vom Lehrstuhl für Geriatrie und Gerontologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und seine Kollegen. „Multi“ bedeutet fünf oder mehr verschiedene Medikamente, die täglich eingenommen werden.

Hinweis zum Absetzen oder Ausschleichen wäre sinnvoll

Krankenhausaufenthalte führen gerne mal zu langen Medikamentenlisten. Allerdings nicht, weil alle Klinikärzte manische Verschreiber sind, die aus lauter Begeisterung immer mehr Wirkstoffe ansetzen: Aus irgendeinem Grund wurde der Patient ja eingewiesen – und die Behandlung dieses Einweisungsgrundes kann die Zahl der notwendigen Pillen und Tropfen schon mal nach oben verschieben. Optimalerweise stünde nun im Entlassbrief: Die Präparate x, y und z können abgesetzt bzw. reduziert oder ausgeschlichen werden. Häufig kommt es allerdings gar nicht erst zu einer kritischen Überprüfung der Medikation – und damit auch nicht zu einem entsprechenden Hinweis im Entlassbrief.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass bei zwei Dritteln aller aus dem Krankenhaus entlassenen Senioren einer kanadischen Kohorte mindestens ein potenziell inadäquates Medikament verordnet war. In der Folge entwickelte fast jeder Zehnte innerhalb von 30 Tagen eine Nebenwirkung. Bei gut einem Drittel von ihnen war diese so ausgeprägt, dass der Betroffene in die Notaufnahme bzw. auf Station musste oder sogar starb. Die Hitliste dieser ungeeigneten Medikamente führten Benzodiazepine an, gefolgt von Protonenpumpeninhibitoren.

Mittlerweile haben sich Fachgesellschaften zusammengesetzt und versucht, dem Problem zu Leibe zu rücken, schreiben die Altersmediziner. Demnach sollte man erst einmal die Wünsche der Kranken erfragen und dann – in Kenntnis der funktionellen Fähigkeiten – möglichst berücksichtigen. Und es fragt sich, ob ein Symptom den Patienten derart belas­tet, dass er dafür unbedingt eine zusätzliche Pille braucht, oder ob eine bessere Lebensqualität durch weniger Arzneimittel so manche kleineren Beschwerden mehr als aufwiegt.

Grundsätzlich besteht das Problem auch darin, dass gerade alte Menschen in viele Studien gar nicht erst eingeschlossen werden. Immerhin: Die eine oder andere Studie speziell mit Senioren gibt es. Ganz aktuell macht die DO-HEALTH-Studie von sich reden. Forscher untersuchten darin bei mehr als 2100 gesunden über 70-Jährigen drei Interventionen in verschiedensten Kombinationen, inkl. Placebo: die hoch dosierte Vitamin-D-Gabe (2000 IU/d), die Supplementierung von Omega-3-Fettsäuren und ein Programm zur körperlichen Aktivität­.

Insgesamt führte keiner der Programmpunkte bzw. der Kombis zu einer Blutdrucksenkung, besseren mobilen und kognitiven Fähigkeiten, weniger nicht-vertebralen Frakturen und weniger Infektionen. Damit liefert die Studie den Experten zufolge einen harten Beleg für ein „Deprescribing“, z.B. eben von hoch dosiertem Vitamin D. Ob besonders vulnerable Alte möglicherweise doch über die üblichen 800 IE hinaus davon profitieren, steht auf einem anderen Blatt.

Auch in Altenheimen sind solche Untersuchungen möglich. Dort erhalten die versorgten Senioren häufig Psychopharmaka. In der COSMOS-Studie wurde in 33 Pflegeeinrichtungen in Norwegen randomisiert die Wirksamkeit einer multimodalen Intervention untersucht­.

Die Maßnahmen bestanden u.a. aus vorausschauender Pflegeplanung, Schmerzmanagement, Besprechung der Medikation im Team und der Organisation von Alltagsaktivitäten. Nach vier Monaten konnten die Forscher bei jedem Dritten aus der Interventionsgruppe mindestens ein Psychopharmakon absetzen, in der Kontrollgruppe bei nur 14 %. Und auch funktionell waren die aktiv Behandelten im Vergleich zu den Kontrollen im Vorteil, beispielsweise konnten sie sich besser selbst versorgen.

Diese und andere aktuelle Studiendaten wecken Erwartungen auf evidenzbasierte Empfehlungen zum Umgang mit der Multimedikation bei Älteren, schreiben die Kollegen. In jedem Fall lohnt es sich, die Medikamentenliste bei älteren Patienten besonders kritisch zu prüfen.

Quelle: Thiem U et al. Internist 2021; 62: 363-372; DOI: 10.1007/s00108-021-00981-7

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