Onkologische Präzisionsmedizin zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Interview Mascha Pömmerl

Multigen-Analysen sollten nur bei hoher Wahrscheinlichkeit für therapeutische Konsequenzen durchgeführt werden. Multigen-Analysen sollten nur bei hoher Wahrscheinlichkeit für therapeutische Konsequenzen durchgeführt werden. © ART STOCK CREATIVE – stock.adobe.com

Derzeit gibt es nur wenige Krebsentitäten, bei denen man mit einer zielgerichteten Therapie die Prognose von bestimmten Subgruppen relevant verbessern kann. Über Möglichkeiten und Grenzen berichtet Professor Dr. Marcus Hentrich.

Mit einer zielgerichteten Therapie werden derzeit keine Patienten geheilt – woran liegt das? Und welche Rolle spielt dabei der Selektionsdruck, den man durch die diese Behandlung ausübt?

Professor Dr. Marcus Hentrich: Wenn Sie so wollen, liegt das in der Natur der Sache. Das bedeutet, die Ätiologie bzw. Pathogenese einer Krebs­erkrankung ist so komplex, dass sie durch das therapeutische Angehen einer einzigen Veränderung oder Mutation nicht ausreichend erreicht werden kann. Es liegt also an der Komplexität der Krebsentstehung, die nicht nur durch eine einzige Mutation bestimmt wird und mit einer einzigen zielgerichteten Therapie nicht effektiv und nachhaltig behandelt werden kann.

Es gibt eine große Ausnahme, die chronische myeloische Leukämie (CML), die durch eine einzige genetische Veränderung, das Philadelphia-Chromosom bzw. das BCR-ABL-Fusionsgen, ausgelöst wird. Der Tyrosinkinase-­Inhibitor Imatinib führt bei CML-Patienten zu einem tiefen molekularen Ansprechen mit sehr hohen Langzeitremissionsraten.

Das durch eine einzige gezielte molekulare Behandlung erreichte Acht-Jahres-Überleben von ca. 90 % gibt es bei keiner anderen malignen Erkrankung und wird es mutmaßlich auch kein anderes Mal geben. Der durch zielgerichtete Therapien hervorgerufene Selektionsdruck mag eine zusätzliche Rolle spielen – im Großen und Ganzen fällt das aber nicht sonderlich ins Gewicht.

Wäre die Kombination von verschiedenen zielgerichteten Therapien eine Möglichkeit?

Prof. Hentrich: Zum Teil wird das schon erfolgreich durchgeführt, z.B. beim malignen Melanom durch eine Kombination von BRAF- und MET-Inhibitoren. Bei vielen anderen Mali­gnomen können relevante molekulare Veränderungen entweder nicht identifiziert oder durch Kombinationstherapien nicht wirksam genug angegangen werden. Hinzu kommt, dass Kombinationstherapien oft mit einer höheren Rate an Nebenwirkungen verbunden sind.

Statt in der fortgeschrittenen Situation gezielt auf eine bestimmte Mutation zu testen – im Sinne einer Companion Diagnostic mit Einzelgen-Analysen für ein bestimmtes Medikament – sollte man ihrer Auffassung nach eine frühere, breite Testung mit Next Generation Sequencing in die Regelversorgung aufnehmen, um von Anfang an den Tumor besser zu kennen?

Prof. Hentrich: Nein, nicht als generelles Vorgehen in der Regelversorgung. Bei hämatologischen Erkrankungen wie der akuten myeloischen Leukämie zählen gezielte molekulargenetische Testungen bereits zum Standardvorgehen.

Es ist bei verschiedenen Erkrankungen vernünftig, sich primär auf Veränderungen zu fokussieren, die therapeutisch adressiert werden können, also beispielsweise die BRAF-Mutation, die Mikro­satelliteninstabilität (MSI) oder die Tumormutationslast. Die HER2neu-­Überexpression, die immunhistochemisch oder mit FISH analysiert wird, zählt beim Brustkrebs schon lange zur diagnostischen Routine mit wichtigen therapeutischen Konsequenzen.

Gegen den Einsatz von Next Generation Sequencing in der Regelversorgung sprechen nicht nur die hohen Kosten dieses Verfahrens, sondern die fehlenden therapeutischen Konsequenzen. Im Rahmen klinischer Studien ist es aber sinnvoll und von wissenschaftlichem Interesse, bereits bei Diagnose eine breite molekulare Diagnostik durchzuführen. Es sollte hierbei aber evaluiert werden, ob sich durch dieses Vorgehen auch tatsächlich Vorteile für die Patienten ergeben, das heißt, ob sich Remissions- oder Überlebensraten durch Zugabe von oder alleiniger Therapie mit einer speziellen Substanz auch verbessern lassen.

Hätte es auch Vorteile, einen Patienten im Krankheits- bzw. Therapieverlauf mehrmals zu testen, um die Eigenschaften von Metastasen, vielleicht im Unterschied zum Primärtumor, zu erfassen?

Prof. Hentrich: Dieses Vorgehen berücksichtigt die klonale Evolution einer Tumorerkrankung. Der Tumor ändert sich im Laufe der Therapie und man kann durch sequenzielle Testungen möglicherweise wichtige Erkenntnisse gewinnen.

Am besten etabliert sind wiederholte Testungen beim Mammakarzinom. Wenn eine Patientin mit Mammakarzinom im Laufe der Zeit Metastasen entwickelt, sollte man nach Möglichkeit eine erneute Histo­logie-Gewinnung anstreben, um den Hormonrezeptorstatus oder den HER2neu-Status zu bestimmen, der sich bei ca. 20 % der Patientinnen different zum Primärtumor verhält und aus dem sich dann therapeutische Konsequenzen ergeben.

Sollte Ihrer Meinung nach auch unter einer laufenden Therapie molekular getestet werden? Wenn ja, mit welchen diagnostischen Tools?

Prof. Hentrich: Ja, dies sollte gemacht werden, wenn die Effektivität der laufenden Therapie sehr begrenzt ist und der Patient hierauf nicht mehr anspricht. Es erfolgen dann gezielte molekulare Testungen, z.B. auf MSI oder den RAS- oder den BRAF-Status. Eine breite Genpaneltestung mit all ihren Vor- und Nachteilen kann natürlich auch zum Einsatz kommen, aber im Vordergrund der Testung sollten molekulare Veränderungen stehen, für die auch eine wirksame Therapie zu Verfügung steht.

Sie betonten in Ihrem Vortrag auf dem onkologischen Symposium, wie wichtig die Dokumentation der Testung und der auf Basis der Test­ergebnisse erfolgten Therapie sei. Wird das denn noch gar nicht gemacht?

Prof. Hentrich: Das erfolgt derzeit vorwiegend auf einer individuellen Basis. Wenn ich ein 400-Genpanel vorliegen habe und daraus eine therapeutische Konsequenz ziehe, wird das natürlich entsprechend dokumentiert. Die Ergebnisse dieser Einzelfallentscheidungen werden bisher aber nicht systematisch genug erfasst.

Es gibt beispielsweise das sogenannte INFINITY-­Register, eine klinische Forschungsplattform zur Entscheidungsfindung und zum klinischen Einfluss der biomarkergesteuerten Präzisionsonkologie, von dem erste Ergebnisse auf dem diesjährigen DGHO-Kongress vorgestellt wurden. In dieser ersten Auswertung wurden Daten nicht nur von breiten Multigen-Analysen präsentiert, sondern u.a. auch von in der klinischen Routine etablierten Bestimmungen, wie z.B. dem HER2neu-Status.

Es wäre aber überaus wichtig zu erfahren, welche Konsequenzen aus der Analyse von 300–400 Genen gezogen wurden und welche klinischen Ergebnisse damit erreicht wurden. In einer großen Arbeit mit 10 000 Patienten vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center wurde dargestellt, welche Mutationen detektiert werden können, aber welche therapeutischen Konsequenzen daraus gezogen wurden und was vor allem aus den Patienten geworden ist, wissen wir nicht. Hierzu gibt es bisher noch so gut wie keine Daten, der Bedarf ist deshalb sehr groß.

Nun zum Thema Finanzierung – man fragt sich angesichts dieser Neuerungen bzw. theoretischen Möglichkeiten unweigerlich: Wer soll das bezahlen?

Prof. Hentrich: Ja, das frage ich mich auch. Momentan geschieht das auf Einzelfallbasis. Die Kassen sind meiner Erfahrung nach meistens relativ wohlwollend, aber ich habe auch schon erlebt, dass Patienten Multigen-Tests auf Next-Generation-Sequencing-Basis selber gezahlt haben. Wenn Patienten Zugang z.B. zu einem an einer Uniklinik angesiedelten molekularen Tumorboard-Netzwerk haben, ist das für sie mit keinen Kosten verbunden.

Das gilt jedoch nur für eine Minderheit und nicht für viele Patienten in der Routineversorgung, die größtenteils in onkologischen Schwerpunktpraxen oder an nicht-universitären Häusern betreut werden. In der Breite sollte man teure und breite Multigen-Analysen meines Erachtens nur durchführen lassen, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich aus den Ergebnissen therapeutische Konsequenzen ergeben.

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Professor Dr. Marcus Hentrich, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung für Hämatologie und Onkologie am Rotkreuz­klinikum München Professor Dr. Marcus Hentrich, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Abteilung für Hämatologie und Onkologie am Rotkreuz­klinikum München © Rotkreuzklinikum München
Multigen-Analysen sollten nur bei hoher Wahrscheinlichkeit für therapeutische Konsequenzen durchgeführt werden. Multigen-Analysen sollten nur bei hoher Wahrscheinlichkeit für therapeutische Konsequenzen durchgeführt werden. © ART STOCK CREATIVE – stock.adobe.com