Physiotherapie ist nutzlos nach Schleudertrauma

Dr. Anja Braunwarth, Foto: fotolia, Andrey Popov

Umfassende Ratschläge und intensive Physiotherapie bei Schleudertrauma? Ein kurzes ärztliches Gespräch und eine einfache Behandlung erfüllen ihren Zweck offenbar genauso gut.

Die HWS-Beschleunigungsverletzung, im Volksmund Schleudertrauma, gilt als häufigste Verletzungsfolge im Straßenverkehr. Sie betrifft etwa 80 % aller Opfer von PKW-Unfällen. Es gibt aber auch andere mögliche Ursachen des „Whiplash-Injury“, z.B. der Sturz ins Kletterseil beim Bergsteigen oder wenn ein Mannschaftssportler auf dem Fußballfeld einen Tritt in den Rücken abbekommt.


Die unerwartet einwirkende Beschleunigungskraft ruft eine abrupte Translations-, Rotations- oder Retroflexionsbewegung der Halswirbelsäule hervor. Nach einer Latenz von mehreren Stunden kommt es im weiteren Verlauf zu muskelkaterartigen Nackenschmerzen. Oft klagen die Betroffenen dabei über begleitende Kopfschmerzen und Steifigkeit, zudem findet sich eine Verspannung der Schulter-Nacken-Muskulatur.

Welche Signale kündigen Chronifizierung an?

Als Ursache vermutet man petechiale Einblutungen in die Muskeln und Bänder, schreibt Privatdozent Dr. Mark Obermann von der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen. Allerdings lassen sich diese Veränderungen bislang mit bildgebenden Verfahren nicht nachweisen.


Bei der überwiegenden Mehrzahl (90–95 %) aller Schleudertraumata findet sich ein niedriger Schweregrad und die Prognose ist in der Regel günstig. In den meisten Fällen klingen die Symptome nach wenigen Tagen bis Wochen ab. Zu den Faktoren, die eine Verlängerung der Beschwerden auslösen können, zählen weibliches Geschlecht, hohes Alter, starke initiale Schmerzhaftigkeit, ausstrahlende Schmerzen in die Arme mit Taubheitsgefühlen, Kopfschmerzen, Schädel-Hirn-Traumata in der Anamnese und psychiatrische Vorerkrankungen wie z.B. Depressionen.


Und bekanntermaßen spielen auch juristische Belange wie Schadensersatzansprüche im Hinblick auf die Symptomdauer eine Rolle. Bei 30–50 % der Patienten kann es zur Chronifizierung kommen, d.h., die Symptome dauern länger als sechs Monate an.


Für die Entstehung dieses posttraumatischen Schmerzsyndroms werden verschiedene Mechanismen diskutiert: Es könnte sich um eine Fehlfunktion des schmerzhemmenden serotonergen Systems im Hirnstamm handeln oder eine Dysregulation neurochemischer, -humoraler oder -elektrischer Systeme. Eine tragende Rolle spielt auch die Psyche.

Arztgespräch versus Physio im Studienvergleich

Zwei Studien untersuchten nun, was eine erweiterte Therapie gegenüber der herkömmlichen bringt. Die MINT*-Studie verglich das Standardvorgehen in der Notaufnahme (einfache Behandlung, kurzes ärztliches Gespräch) mit aktiver und ausführlicher Aufklärung inklusive der Ausgabe einer Infobroschüre.


Besserten sich die Symptome nicht innerhalb von drei Wochen, konnten sich die Patienten wieder vorstellen und wurden dann randomisiert einer Gruppe mit wiederholter Physiotherapie (bis zu sechs Sitzungen in acht Wochen) und einer zweiten mit einmaliger Physio­therapie und Auffrischung der Ratschläge zugeteilt. 3851 Patienten mit einem nicht länger als sechs Wochen zurückliegenden Schleudertrauma der Schweregade I bis III nahmen daran teil.

Physio: leichte Vorteile nur in den ersten vier Monaten

Weder nach vier, noch nach acht oder zwölf Monaten fand sich im primären Endpunkt, dem Neck Disability Index, ein signifikanter Unterschied zwischen Standardbehandlung und aktiver Aufklärung. Die Physiotherapie brachte innerhalb der ersten vier Monate einen leichten Vorteil – dieser ließ sich später allerdings nicht mehr nachweisen.


Die PROMISE**-Studie untersuchte den Nutzen einer intensivierten Physiotherapie vs. Verhaltensratschlägen bei chronischem Schleudertrauma an 172 Patienten. Das enttäuschende Ergebnis: Die Krankengymnastik zeigte nach zwölf Wochen, sechs und zwölf Monaten keinen größeren Effekt als das Gespräch.


Die beiden Studien werfen auch die Frage auf, ob gesteigerte diagnostische und therapeutische Bemühungen Patienten mit Schleudertrauma nicht sogar mehr schaden als nutzen, erklärt Dr. Obermann. Denn damit könnte man sie kränker machen, als sie sind. Möglicherweise gilt hier wie so oft: „Weniger ist mehr.“ 


*Managing Inquiries of the Neck Trial
**Comprehensive physiotherapy exercise programme or advice for chronic whiplash


Quelle: Mark Obermann, InFo Neurologie & Psych­iatrie 2015; 17: 44-50 

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