Schlaglicht auf die Schnürringe

DGN 2023 Friederike Klein

Intra­venöse Immunglobuline schlagen meist nicht an, wenn es sich um eine Paranodopathie handelt. Intra­venöse Immunglobuline schlagen meist nicht an, wenn es sich um eine Paranodopathie handelt. © Axel Kock – stock.adobe.com

Bei einem 69-jährigen Patienten mit einem subakuten Beginn von Paresen und Ataxien sprach vieles für eine CIDP. Nach frustranen Therapieversuchen fand sich aber eine andere Ursache für das stetig schlechter werdende Befinden. 

Nicht alles, was demyelinisierend aussieht, ist es auch“, sagte PD Dr. ­Andreas ­Steinbrecher, Chefarzt der Klinik für Neurologie des Helios Klinikums Erfurt. Ein 69-jähriger Mann hatte sich im Januar 2022 aufgrund eines Sturzes in der Notaufnahme vorgestellt. Zuvor hatte er bereits sechs Wochen lang zunehmende Taubheitsgefühle in beiden Beinen (strumpfartig) und den Handinnenflächen sowie eine zunehmende Gangunsicherheit bemerkt. Neurologisch zeigten sich unter anderem Tetraparese (Fingerspreizer und Beine proximal und distal), Areflexie, Dyästhesien der Hände, Hypästhesie der Unterschenkel, nahezu eine Pallanästhesie, eine afferente Ataxie der Beine und eine Stand- und Gangataxie. Die Neurografie ergab eine deutlich verlängerte distale motorische Latenz (DML), eine herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit (NLG), reduzierte Amplituden und an den Beinen ausgefallene F-Wellen.

Zunächst sprach alles für eine generalisierte motorische und sensible, v.a. demyelinisierende, beinbetonte periphere Neuropathie.

„Die CIDP-Kriterien waren erfüllt“, betonte Dr. Steinbrecher. Im Liquor fand sich eine zytoalbuminäre Dissoziation und in der MRT leuchtete eine einzelne Nervenwurzel. Das Labor ergab keine relevanten Anhaltspunkte. „Wir haben die Arbeitsdiagnose CIDP gestellt und erst einmal über fünf Tage mit Steroiden behandelt“, erzählte der Kollege. Es zeigte sich eine rasche Besserung und bei Entlassung waren Stand und Gang sicher.

In den folgenden drei Wochen war der Patient bis zu 20 Minuten gehfähig; ein Taubheitsgefühl gab es nur noch an den Fußsohlen. Nach vier Wochen wurde er allerdings wieder vorstellig – mit einer Präsentation wie bei der Erstaufnahme. Es erfolgte ein erneuter Steroidpuls und die Empfehlung, diesen ambulant alle vier Wochen zu wiederholen. 

Ein halbes Jahr später berichtete der Patient von einer zunehmenden Schwäche der Arme seit acht Wochen, rechts mehr als links, und Problemen, aus dem Sitzen aufzustehen. Ein Treppensteigen war nicht möglich. An Händen, Füßen und Unterschenkeln hatte er ein Taubheits- und Einschnürungsgefühl. Gehen konnte er nur noch mit einem Rollator.

Es zeigten sich eine Atrophie der Extremitätenmuskeln und auch elektrophysiologisch ein deutlicher Progress der demyelinisierenden Veränderungen, zunehmend auch mit einer axonalen sensomotorischen Schädigung. Der Patient erhielt daraufhin intravenöse Immunglobuline (IVIG 2g/kgKG) mit Wiederholung nach drei Wochen, danach in einer Dosis von 90 mg alle vier Wochen.

Was sind Paranodopathien?

Seit etwa zehn Jahren werden autoimmune Nodo- und Paranodopathien als eigene Unterform der peripheren Neuropathie diskutiert. Statt der Myelinscheide oder dem Axon sind hier die Ranvier‘schen Schnürringe primärer Angriffspunkt der Immunantwort, was die Nervenerregungsleitung blockiert. Elektrophysiologisch zeigen sich Zeichen einer vermeintlichen Demyelinisierung, die histologisch aber nicht nachweisbar ist.

Die S1-Leitlinie „Diagnostik bei Polyneuropathien“ von 2019 empfiehlt erstmals, bei einer immunvermittelten Neuropathie mit ungewöhnlichen Merkmalen (aggressiver Beginn, schlechtes  Ansprechen auf Immunglobuline, Tremor, Ataxie, Neuromyotonie, schwere neuropathische Schmerzen) Autoantikörper gegen nodale/paranodale Zielantigene zu bestimmen. Patienten mit diesen Antikörpern sprechen oft schlecht auf Stan­dard­thera­pien der CIDP an, gut dagegen auf Rituximab.

Drei Monate später bot sich folgendes Bild: Der Patient war schon seit einigen Wochen nicht mehr gehfähig, konnte die Hände nicht mehr gebrauchen, und das Taubheitsgefühl war an den Armen und Händen stärker ausgeprägt als an den Beinen. Zudem berichtete er über einen Geschmacksverlust. Er hatte eine ausgeprägte Tetraparese mit deutlichen Atrophien von Schultergürtel, Oberarm und Oberschenkel. Im Ultraschall waren die Nervendurchmesser erhöht, in der Elektromyografie zeigten sich eine pathologische Spontanaktivität in den Extremitäten in allen untersuchten Muskeln und chronisch neurogene Veränderungen. Der Nervus peronaeus zeigte einen kompletten Potenzialverlust, der Nervus ulnaris einen Leitungsblock.

Paraneoplastische Antikörper waren schon zu Beginn ausgeschlossen worden, jetzt schickten die Erfurter Kollegen Serum in ein Labor nach Würzburg, um es auf Antikörper gegen paranodale Antigene untersuchen zu lassen. Tatsächlich fanden sich Autoantikörper gegen Contactin-1 (CTN-1); daraufhin wurde die Diagnose einer Para­nodo­pathie gestellt. Nach einer sechsmaligen Plasmapherese zur raschen Entfernung der Autoantikörper und dem Beginn der Therapie mit Rituximab konnte der Patient rasch wieder etwas die Hände und Arme bewegen. Mittlerweile kann er bis zu eine Stunde lang am Rollator laufen, selbstständig aus dem Stuhl aufstehen und mit Messer und Gabel essen. 

Als wichtige klinische Charakteristika für eine Paranodopathie durch CNT-1-Antikörper nannte Dr. Steinbrecher:

  • akuter bis subakuter Beginn

  • Paresen

  • Ataxie

  • keine oder geringe Antwort auf intra­venöse Immunglobuline

Elektrophysiologisch sind mit verlängerter  distal-motorischer Latenz, Leitungsblöcken, (geringer) temporaler Dispersion und verlängerten F-Wellen-Latenzen in der Regel die CIDP-Kriterien erfüllt – „da sieht es aus wie eine demyelinisierende Polyneuropathie“, erklärte Dr. Steinbrecher. Antikörper gegen Neuro­fascin 186 weisen auf eine Nodo­pathie, Antikörper gegen Contractin-1, Neurofascin 155 oder CASPR1 auf eine Paranodopathie hin.

Quelle: Kongressbericht Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)-Kongress 2023

Falls Sie diesen Medizin Cartoon gerne für Ihr nicht-kommerzielles Projekt oder Ihre Arzt-Homepage nutzen möchten, ist dies möglich: Bitte nennen Sie hierzu jeweils als Copyright den Namen des jeweiligen Cartoonisten, sowie die „MedTriX GmbH“ als Quelle und verlinken Sie zu unserer Seite https://www.medical-tribune.de oder direkt zum Cartoon auf dieser Seite. Bei weiteren Fragen, melden Sie sich gerne bei uns (Kontakt).


Intra­venöse Immunglobuline schlagen meist nicht an, wenn es sich um eine Paranodopathie handelt. Intra­venöse Immunglobuline schlagen meist nicht an, wenn es sich um eine Paranodopathie handelt. © Axel Kock – stock.adobe.com