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Schreien, weglaufen, um sich schlagen

Entwickelt ein Demenzpatient herausforderndes Verhalten, stoßen die Angehörigen schnell an ihre Grenzen. Nicht selten landet der Kranke wegen Agitation, Aggression, psychotischer Symptome oder Enthemmung in der Klinik. Prof. Dr. Tillmann Supprian, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Gerontopsychiatrie am LVR-Klinikum Düsseldorf, kennt solche Patienten aus dem Effeff. Er stellte die wichtigsten demenztypischen Verhaltensstörungen vor und gab therapeutische Empfehlungen.
Apathie
Viele Menschen mit Demenz entwickeln eine Antriebsstörung. Sie selbst nehmen diese gar nicht wahr und haben folglich keinen Leidensdruck. Da apathische Patienten viel weniger stören als unruhige, erfolgt meist keine gezielte Behandlung. Gut wirksam sind zwar soziotherapeutische Interventionen, „aber es macht keiner“, sagte Prof. Supprian. Gemäß eines Cochrane-Reviews von 2018 soll Methylphenidat möglicherweise effektiv sein. Für den Kollegen ist es aufgrund der schwachen Datenlage dennoch keine gute Option. „Meine Empfehlung: Finger weg davon!“
Umherwandern
Die Unruhe des Patienten, das Hin- und Weglaufen ist im Vergleich zur Apathie das weitaus größere Problem. Im fortgeschrittenen Demenzstadium sind die Betroffenen oft orientierungslos, erkennen die eigene Wohnung nicht mehr, fühlen sich fremd und laufen weg. Dies kann natürlich zu gefährlichen Situationen führen: „Im Februar morgens um fünf auf der Autobahn in leichter Bekleidung auf dem Weg nach Hause – ein Schreckensszenario“, verdeutlichte der Gerontopsychiater.
Dennoch sollte man seiner Ansicht nach auf dämpfende Medikamente verzichten. Stattdessen müsse man den Bewegungsdrang kanalisieren, etwa durch begleitete Spaziergänge. In Pflegeeinrichtungen seien entsprechende bauliche und organisatorische Konzepte erforderlich, etwa Rundkurse. Sprechen müsse man auch über GPS-Tracking. Prof. Supprian hat solche Systeme bereits Familien bzw. Angehörigen empfohlen.
Wahn und aggressives Verhalten
Wahnhafte Verkennungen und Ideen sowie aggressives Verhalten erfordern den fühzeitigen Einsatz von Antidementiva. Dies gilt insbesondere bei optischen Halluzinationen. Neuroleptika werden bei schwerwiegenden Verhaltensänderungen in niedriger Dosierung und nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt. Unter den Substanzen haben die Patienten ein erhöhtes Sturzrisikio, es kann zu extrapyramidalmotorischen Wirkungen, kardio- und zerebrovaskulären Ereignissen sowie Pneumonien kommen. Zudem steigt die Mortalität an, warnte der Kollege. Risperidon wird in einer Dosierung von 0,5 mg/d verordnet. Die Tagesdosis für Quetiapin beträgt 25 mg und die für Aripiprazol 2,5 mg. Es gilt: niedrig einsteigen, langsam steigern. Bleibt der Effekt nach einigen Wochen aus, muss man die Substanz wieder absetzen.
Utilisationsverhalten
Der Begriff steht für wiederkehrende, meist unsinnige Handlungen wie das permanente Öffnen von Schubladen, Herumfummeln an Verschlüssen, Drücken von Türklinken oder Wischen. Gelegentlich hantieren Kranke aber auch an Steckdosen und anderen Stromquellen herum, was das Verhalten gefährlich macht. Betroffene Patienten benötigen eine sinnvolle Tagesbeschäftigung, was allerdings eine entsprechende Betreuungintensität erfordert.
Horten und Sammeln
Nicht nur Messies, auch Demente können ihre Wohnung bis zur Decke mit wertlosen Alltagsartikeln vollstopfen. Häufig gehortet werden Nahrungsmittel, die über kurz oder lang verderben bzw. verfaulen. Solange keine Gefahr besteht, dass sich Parasiten im Sammelgut einnisten, sollte man, so Prof. Supprian, Toleranz walten lassen. Gewisse Eigenheiten müsse man dem Patienten zugestehen. Wichtig sei, die Angehörigen anzuleiten, wie sie mit dem Horten und Sammeln des Patienten umgehen können.
Angst, Depression
Eine Depression im höheren Lebensalter (late onset depression) kann Vorbote, aber auch Frühzeichen einer Demenzerkrankung sein. Auch Angststörungen treten häufig früh im Krankheitsverlauf auf. Neben einem medikamentösen Behandlungsversuch (s.u.) sind vor allem soziotherapeutische Maßnahmen und Psychotherapie sinnvoll. Für wichtig hält Prof. Supprian, dass die Betroffenen ein Krankheitsmodell erarbeiten und lernen, dass man auch mit einer Demenz leben kann.
Manche Patienten sind trotz typischer Demenzsymptome mit ihrem Leben zufrieden, berichtete der Kollege. Man dürfe nicht nur auf die Defizite der Patienten schauen, sondern müsse ihre Ressourcen förden. So bleibt z.B. das Erinnern an Melodien sehr lange erhalten.
In der medikamentösen Therapie der Depression sind SSRI trotz „nicht toller Datenlage“ Mittel der Wahl. Trizyklika haben dagegen bei Alzheimerpatienten keinen Platz. Nehmen sie an Gewicht ab, weil sie keinen Appetit mehr haben, sind Appetitstimulatoren wie Mirtazapin indiziert. Auch in der Depressionstherapie startet man mit niedrigen Dosierungen und titriert langsam nach oben. Für die medikamentöse Behandlung von Angst und Angststörungen bei dementen Patienten gibt es keine evidenzbasierten Optionen. In manchen Fällen hat Prof. Supprian mit Pregabalin Erfolg. Von Benzodiazepinen rät er explizit ab, da sie den Krankheitsverlauf verschlechtern.
Sexuelle Enthemmung
Auch Menschen mit Demenz haben ein Recht auf sexuelle Entfaltung, betonte Prof. Supprian. Liegt jedoch übergriffiges Verhalten vor, wird es nicht nur für Familien und Pflegeeinrichtungen schwierig, es können auch strafrechtlichte Konsequenzen drohen. So hat der Kollege schon erlebt, dass Mitbewohner einen übergriffigen Patienten verklagt haben.
Sexuelle Enthemmung betrifft überwiegend Männer. Bei gegebener Indikation kann man sie mit SSRI oder mit Cyproteronacetat behandeln. „Ganz gute Evidenz“ für die antiandrogene Therapie sei mittlerweile vorhanden, erklärte Prof. Supprian.
Lautes Schreien und Rufen
Inadäquate Vokalisationen kommen mit eine Prävalenz von 11–35 % in Pflegeheimen recht häufig vor. Die Patienten rufen „Hallo“, „Hilfe“ oder Eigennamen, manche brummen, andere summen vor sich hin, wieder andere sprechen enthemmt. Die von dieser Verhaltensstörung Betroffenen sind relativ alt, ihr Durchschnittsalter liegt zwischen 76 und 85 Jahren. Meist leiden sie an einer mittelschweren bis schweren Demenz, Immobilität, Inkontinenz und erfordern erheblichen Pflegeaufwand.
Zu prüfen ist in diesen Fällen, ob in der Betreuung eine personelle Konstanz gewährleistet ist und ob die pflegerische Zuwendung ausreicht. Womöglich ist der Kranke überfordert oder vereinsamt. Positive Effekte können Berührung (basale Stimulation), Musik (z.B. via MP3-Player) und generell Ablenkung durch Fernsehen oder Blick auf belebte Außenbereiche haben.
Lässt sich das Schreien trotz der genannten Maßnahmen nicht in den Griff bekommen, bleiben als medikamentöse Optionen vor allem Acetylcholinesteraseinhibitoren und Memantin. Zweite Wahl sind serotonerge Antidepressiva (Citalopram, Escitalopram, Sertralin, evtl. Trazodon) in niedriger Dosierung. Als Ultima Ratio kann man einen Therapieversuch mit einem Benzodiazepin machen. Mitunter haben Analgetika erstaunliche Effekte, selbst wenn das Schreien primär nicht schmerzbedingt ist. „Meine eigenen Erfahrungen mit Neuroleptika sind schlecht. Sie haben nie einen durchgreifenden Effekt gezeigt“, sagte Prof. Supprian. Er setzt deshalb eher auf Pregabalin.
Schlafstörungen
Ein veränderter Tag-Nacht-Rhythmus mit nächtlichem Umherwandern ist „für alle eine riesige Strapaze“, erklärte Prof. Supprian. Ein therapeutischer Nutzen besteht möglicherweise durch helles Licht, bzw. Tageslicht. Die Verordnung von Hypnotika steigert dagegen die Mortalität alter Menschen um mehr als das Dreifache. Melatonin kann gemäß eines Cochrane-Reviews die Schlafparameter nicht bessern. Prof. Supprian verordnet seinen Alzheimerpatienten mit Insomnien
- Mirtazapin (7,5–15 mg),
- Pipamperon (20–40 mg),
- Trazodon (50 mg),
- Clomethiazol (192–384 mg) oder
- Eszopiclon (1–2 mg).
Mangels klarer Evidenz sei dies jedoch alles „aus der Not geboren.“
* Online-Veranstaltung „Der demenzkranke Patient in der Hausarztpraxis“ vom 13.06.2023, streamed-up.com
Quelle: PraxisLive*
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