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So überlebte Nawalny den Nowitschok-Anschlag
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Ein 44-jähriger bisher gesunder Mann begann auf einem russischen Inlandsflug kurz nach dem Start heftig zu schwitzen, war verwirrt und musste erbrechen. Dann verlor er das Bewusstsein und wurde nach einer Notlandung in die Toxikologie-Abteilung eines Krankenhauses in Omsk eingeliefert – etwa zwei Stunden nach Beginn der Symptome.
Laut Entlassbericht war er komatös, schwitzte stark und hatte einen starken Speichelfluss. Der Mann litt unter Atemversagen, Myoklonien, Stoffwechselstörungen, Elektrolytentgleisungen und einer metabolischen Enzephalopathie. Die Erstmaßnahmen der russischen Kollegen umfassten Intubation, Beatmung und Sedierung sowie die symptomatische Therapie mit den Autoren nicht näher bekannten Medikamenten. Auf Wunsch der Familie wurde der Mann zwei Tage nach Symptombeginn zur Weiterbehandlung in die Charité Berlin geflogen.
Im Flieger bekam er Propofol, Fentanyl und Elektrolyte
Ein Arzt der Flugambulanz stellte bei ihm vor dem Transport Bradykardie, Hypothermie, weite, lichtstarre Pupillen und intermittierende Myoklonien unter Sedierung mit Propofol fest. Während des Flugs erhielt der Mann Propofol, Fentanyl und eine Elektrolytlösung und wurde weiter beatmet. Bei Ankunft in der Intensivstation der Berliner Klinik war der Patient tief komatös. Man registrierte eine leichte Bradykardie, Hypersalivation, Hypothermie, Diaphorese, kleine, lichtstarre Pupillen, abgeschwächte Hirnstammreflexe, verstärkte Sehnenreflexe und Pyramidenzeichen.
Anhand des klinischen Bilds, das durch eine Überstimulation muskarinerger und nikotinerger Rezeptoren zu erklären war, sowie der Laborbefunde, die eine stark eingeschränkte Cholinesterase-Aktivität zeigten, diagnostizierten die Berliner Kollegen eine Vergiftung mit einem Cholinesterasehemmer. Sie begannen eine Therapie mit Atropin und Obidoxim. Da letzteres keine Wirkung zeigte, setzten die Ärzte es am nächsten Tag wieder ab. Atropin gaben sie für weitere zehn Tage. Im Verlauf der intensivmedizinischen Betreuung besserte sich der Zustand des Patienten allmählich. An Tag 12 begann der Mann wieder selbstständig zu atmen, an Tag 26 erfolgte die Verlegung auf die Normalstation. Zum Zeitpunkt der abschließenden Untersuchung an Tag 55 waren auch die neurologischen, neurophysiologischen und neuropsychologischen Auffälligkeiten nahezu verschwunden.
Zurückzuführen war die Intoxikation in diesem von Dr. David Steindl aus der Charité Berlin und Mitarbeitern kürzlich publizierten Fallbericht auf ein Organophosphat der Nowitschok-Gruppe. Diese Nervenkampfstoffe wurden in den 1980er Jahren in Russland entwickelt und seitdem mehrfach für Giftanschläge verwendet.
Auch andere Organophosphatvergiftungen, z.B. mit Insektiziden, werden durch Cholinesterasehemmung hervorgerufen. Atropin wird schon seit Jahrzehnten als wichtigstes Antidot dagegen eingesetzt. Nach Leitlinien sollte dies so früh wie möglich geschehen, um das Leben der Betroffenen zu retten, schreiben Professor Dr. Michael Eddleston von der University of Edinburgh und Dr. Fazle Rabbi Chowdhury von der Bangabandhu Sheikh Mujib Medical University Bangladesh in einem assoziierten Kommentar.
Geringe Dosis oder weniger toxisch als befürchtet?
Nowitschok-Agenzien sind fünf- bis zehnmal toxischer als andere Organophosphate. Doch sowohl der Patient im Fallbericht als auch zwei Nowitschok-Opfer im englischen Salisbury haben ohne frühe Atropintherapie unter intensivmedizinischer Betreuung überlebt. Das könne entweder bedeuten, dass das Nervengift weniger toxisch ist als befürchtet, dass die verwendeten Dosierungen zu gering waren oder der gewählte Administrationsweg die Toxizität verringert hat, mutmaßen die Autoren.
Quellen:
1. Steindl D et al. Lancet 2020; DOI: 10.1016/S0140-6736(20)32644-1
2. Eddleston M, Chowdhury FR. A.a.O.; DOI: 10.1016/S0140-6736(20)32749-5
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