Update Neuroforschung: Auf Trüffelsuche im Publikationswald

Maria Fett

Professor Diener führt durch die letzten Monate Neuroforschung. Professor Diener führt durch die letzten Monate Neuroforschung. © iStock/Spoorloos

Keine 40 Fachzeitschriften abonniert? Im vergangenen Jahr nicht regelmäßig die Fachpresse gewälzt? Halb so wild.

Nach dem Streifzug von Professor Dr. Hans-Christoph Diener durch die jüngere Neuroforschung wussten die Zuhörer genau, was sich auf ihrem Gebiet Wichtiges getan hat. Im Folgenden einige Beispiele.

Demenzen

Fernsehen macht dumm! Wer schon einmal in den zweifelhaften Genuss der vor- und nachmittäglichen TV-Unterhaltung kam, wird dies zweifelsohne bestätigen. Nun bekam der lapidare Ausspruch empirische Evidenz. In einer britischen Langzeitstudie zeigten ältere Probanden eine signifikant schlechtere kognitive Leistung, wenn sie täglich mehr als sieben Stunden in die Röhre guckten.1 Die Vergleichsgruppe bestand aus denjenigen, die weniger Zeit pro Tag vor der Mattscheibe verbrachten.

Die Resultate der 3662 über 50-Jährigen lassen eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Fernsehkonsum und abnehmenden Gedächtnisfunktionen erkennen, erklärte der Kollege von der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen. Allerdings korrelierte der tägliche TV-Genuss mit dem Bildungsgrad. Vielgucker wiesen häufiger keine bzw. eine geringe Ausbildung auf.

Erfreulicher lesen sich die Erkenntnisse spanischer Kollegen.2 Ihnen gelang Anfang des Jahres der Nachweis, dass die hippocampale Neurogenese auch noch bei Hochbetagten in vollem Gange ist – nicht aber, wenn sie an der Alzheimerdemenz leiden. Bei Betroffenen ist die Bildung neuer Nervenzellen verringert bzw. nicht vorhanden. In einer neuen Analyse von Daten der Framingham Heart Study konnte zudem das Tau-Protein im Blutserum als Prädiktor für eine erhöhte Demenzwahrscheinlichkeit identifiziert werden.3

Entzündliche ZNS-Erkrankungen

Grund zu verhaltenem Optimismus gibt es bei der Meningitis, deren Inzidenz laut aktueller Global-Burden-of-Disease-Studie weltweit sinkt. Verhalten, da die Fallzahlen entgegen dem Trend in Afrika ansteigen. Prof. Diener sah die Ursache in der „miesen medizinischen Versorgung“, die auf dem Kontinent herrscht.4

In der jüngsten Literatur fiel dem Neurologen besonders eine Arbeit auf: US-Forscher identifizierten bei 57 Meningitispatienten mithilfe des Next-Generation-Sequencing 13 zusätzliche Erreger.5 Erreger, die das Routinelabor zuvor nicht erkannt hatte. Die Technik ist eine vergleichsweise neue Nukleinsäureanalytik, in der simultan mehrere 100 Millionen Fragmente in einer Probe sequenziert werden. Next-Generation-Sequencing könnte dazu beitragen, die Diagnostik bei Meningoenzephalitiden zu verbessern, urteilte Prof. Diener.

Ebenfalls erwähnenswert fand er die Ergebnisse einer Lancet-Studie, in der 27 % der Patienten mit einer Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis binnen drei Monaten nach der Infektion eine autoimmune Gehirnhautentzündung entwickelt hatten.6

Epilepsie

Vorsicht ist beim Wechsel der antikonvulsiven Medikation geboten. Vor allem dann, wenn es von einem Markenpräparat auf ein Generikum geht. Teilnehmer einer deutschen Fall-Kontroll-Studie wiesen nach einem solchen Switch ein deutlich erhöhtes Rezidivrisiko auf (Odds Ratio, OR 1,85).7 Waren sie von einem Generikum auf ein anderes umgestellt worden, lag die Wahrscheinlichkeit für neue Anfälle bei 45 % (OR 1,45). Wenig problematisch scheint das „Upgrade“ von Nachahmerpräparaten auf Brands zu sein (OR 0,90).

In der Second-Line-Therapie des pädiatrischen Status epilepticus erwies sich Levetiracetam dem Phenytoin als ebenbürtig, berichtete Prof. Diener.8 Er riet dazu, trotzdem auf das Ethyl-Derivat von Pircetam zu setzen. Unter Phenytoin häufig beobachtete Hautreaktionen treten unter Levetiracetam nicht auf.

Eine Absage erteilte der Experte Topiramat und Valproinsäure für die Behandlung schwangerer Epilepsiepatientinnen. Besonders die Valproinsäure erhöht das Risiko für kongenitale Fehlbildungen dramatisch, wie aus einer französischen Arbeit hervorgeht.9 Prof. Diener betonte, dass die inkludierten Frauen die Substanzen kurz vor bzw. bis maximal zwei Monate nach der Konzeption eingenommen hatten. Zwölf Monate postpartal registrierten die Autoren 23 unterschiedliche Fehlbildungen bei den Säuglingen. So war Valproinsäure u.a. mit einem mehr als 19-mal höheren Risiko für eine Spina bifida, Topiramat mit einer fast 7-fach erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte assoziiert.

Multiple Sklerose

Mit den News zur MS-Forschung hätte man einen eigenen 90-Minuten-Vortrag füllen können, sagte Prof. Diener. Wer auf Biomarker in Prognosebeurteilung setzt, wird von Neurofilament-Leichtketten (NFL) bereits gehört haben. Dazu publizierte eine deutsche Forschergruppe Anfang des Jahres neue Daten.10 Retrospektiv hatte sich gezeigt, dass niedrigere NFL-Serumwerte mit einer geringen Konversionsgefahr für Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom einhergehen, unabhängig von anderen Risikofaktoren wie der Läsionslast.

Genau die scheint in dem Kontext aber entscheidend: Bei hoher Läsionslast ist meist auch die NFL-Konzentration erhöht. In diesen Fällen verbessert der Biomarker die Prognosebeurteilung also vermutlich nicht. Weitere Einschränkung: Neurofilament korreliert mit vielen entzündlichen ZNS-Erkrankungen, ist also nicht MS-spezifisch.

Stetig Neues gibt es zu den medikamentösen Therapieansätzen bei der RRMS. Vom monoklonalen Antikörper Opicinumab, der die blockierende Wirkung des Moleküls LINGO-1 aufhebt, erhoffen sich Kollegen einen neuen therapeutischen Zugang.11 In einer aktuellen Phase-II-Studie reduzierte die Substanz die neurologische Behinderung allerdings nicht besser als Placebo.

Dagegen zeigten MS-Patienten, die mit zweimal täglich 75 mg des Kinasehemmers Evobrutinib behandelt worden waren, in den Wochen 12–24 der Therapie signifikant weniger Gadolinium aufnehmende Herde als Kontrollen unter Placebo (1,15 Läsionen vs. 4,06 Läsionen). Keine Unterschiede fanden die Wissenschaftler in der jährlichen Schubrate.

Als „Top-Ergebnis“ bezeichnete Prof. Diener zudem den Erfolg der Stammzelltransplantation bei therapierefraktärer MS. „Problem der Studie war jedoch, dass die Behandlungsmöglichkeiten bei keinem der 110 Teilnehmer zuvor ausgeschöpft worden waren“, gab er zu bedenken.12

Neuromuskuläre Erkrankungen

Eine „wirklich sehr gute Studie“ klärte in diesem Jahr die Frage, unter welcher Therapie Patienten mit generalisierter Myasthenia gravis das bessere Langzeitoutcome erwarten dürfen.13 Im Vergleich zur alleinigen Prednisongabe resultierte eine zusätzliche Thymektomie in einem größeren Benefit für die Teilnehmer, erklärte Prof. Diener. Diese wiesen zu allen Zeitpunkten des 5-jährigen Follow-ups signifikant niedrigere Werte im quantitativen Myasthenie-Score auf.

Trotz wiederholter Hinweise auf ein möglicherweise reduziertes Parkinsonrisiko nach einer Appendektomie glaubt Prof. Diener nicht, dass die pathophysiologische Rolle des Wurmfortsatzes endgültig geklärt ist – obschon die Autoren einer aktuellen Arbeit ihre Ergebnisse mit „The benefit of a missing appendix“ betitelten.14

Nach Analyse der Daten von rund 1,6 Millionen Personen aus dem schwedischen Gesundheitsregister kamen die Kollegen zu dem Schluss, dass besagtes Risiko um 19 % geringer ist, wenn der Appendix entfernt wurde. Zwar hat man mit dem Eingriff eine der Hauptabfallplätze von pathogenem α-Synuklein eliminiert, so der Neurologe. Über das tatsächliche Ursache-Wirkungs-Prinzip könne man aber streiten. Vor allem, weil solche Proteinaggregate auch bei Gesunden gefunden wurden.

Quellen:
1 Fancourt D, Steptoe A. Nature Scientific Reports 2019; 9: 2851; DOI: 10.1038/s41598-019-39354-4
2 Moreno-Jiménez EP et al. Nature Medicine 2019; 25: 554-560; DOI: 10.1038/s41591-019-0375-9
3 Pase MP et al. JAMA Neurol 2019; 76: 598-606; DOI: 10.1001/jamaneurol.2018.4666
4 GBD 2017 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators. Lancet 2018; 392: 1789-1858; DOI: 10.1016/S0140-6736(18)32279-7
5 Wilson MR et al. N Engl J Med 2019; 380: 2327-2340; DOI: 10.1056/NEJMoa1803396
6 Armangue T. et al. Lancet Neurol 2018; 17: 760-772; DOI: 10.1016/S1474-4422(18)30244-8
7 Lang JD et al. Ann Neurol 2018; 84: 918-925; DOI: 10.1002/ana.25353
8 Lyttle MD et al. Lancet 2019; 393: 2125-2134; DOI: 10.1016/S0140-6736(19)30724-X
9 Blotière PO et al. Neurology 2019; 93: e167-e180; DOI: 10.1212/WNL.0000000000007696
10 Kuhle J et al. Neurology 2019; 92: e1007-e1015; DOI: 10.1212/WNL.0000000000007032
11 Cadavid D et al. Lancet Neurol 2019; 18: 845-856; DOI: 10.1016/S1474-4422(19)30137-1
12 Burt RK et al. JAMA 2019; 321: 165-174; DOI: 10.1001/jama.2018.18743
13 Wolfe GI et al. Lancet Neurol 2019; 18: 259-268; DOI: 10.1016/S1474-4422(18)30392-2
14 Killinger BA et al. Sci Transl Med 2018; 10: pii: eaar5280; DOI: 10.1126/scitranslmed.aar5280

Kongressbericht: 92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie

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