Zwischen Rausch und regungslos: Psychiatrische Notfälle richtig differenzieren

Dr. Anja Braunwarth

Sieht aus wie Badesalz, heißt Badesalz, ist aber kein Badesalz. Sondern: eine unberechenbare Modedroge. Sieht aus wie Badesalz, heißt Badesalz, ist aber kein Badesalz. Sondern: eine unberechenbare Modedroge. © BillionPhotos.com – stock.adobe.com

Intoxikationen, Suizidalität und Erregungszustände führen die Hitliste psychiatrischer Notfälle an, doch es gibt weitere Ursachen­. Und nicht immer lassen sich die Symptome leicht zuordnen. Eine aktuelle Leitlinie hilft dabei.

Mit bis zu 43 % dominieren hierzulande Intoxikationen unter den psychiatrischen Notfällen, schreibt das Leitlinienteam um Professor Dr. Frank-Gerald­ Pajonk von der Praxis Isartal in Kloster Schäftlarn. Eine akute Intoxikation oder ein akuter Rausch stehen in direktem Zusammenhang mit den pharmakologischen Wirkungen der eingenommenen Substanz. Gewöhnlich handelt es sich um ein langsam abklingendes, passageres Geschehen.

Typische Zeichen sind Beeinträchtigungen von Bewusstsein, Kognition, Wahrnehmung, Affekt, Verhalten und Reaktionen. Je nach Auslöser und Art der Einnahme drohen im Zuge einer Intoxikation medizinische Komplikationen wie Traumata, Aspiration, Delir, Koma, Krampfanfälle oder Enzephalopathien.

Der pathologische Rausch

Ein pathologischer Rausch tritt vor allem bei Patienten mit vorbestehender Hirnschädigung (z.B. Schädel-Hirn-Trauma, Enzephalitis) auf. Kurz nach der Aufnahmen nur geringer Mengen Alkohol kommt es zu massiven Bewusstseinsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, parano­idem Erleben, Sinnestäuschungen und Erregungszuständen. „Normale“ Zeichen der Trunkenheit fehlen meist. Das Ende vom Lied ist häufig ein plötzlicher Schlaf, aus dem die Betroffenen mit einer partiellen oder vollständigen retrograden Amnesie erwachen.

Häufig handelt es sich um Mischintoxikationen

Außerdem beeinflussen individuelle Faktoren den Verlauf. So entwickeln regelmäßige Konsumenten eine Toleranz, während zwischenzeitliche Abstinenzphasen Vergiftungssymptome verstärken. Häufig liegen Mischintoxikationen mit teils unklaren Komponenten vor und für neue Substanzen (z.B. Badesalze, Dextrometorphan) kennt man die Wirkungen noch gar nicht genau. Jede Intoxikation bedarf daher der individuellen Beurteilung und die Leitlinienautoren warnen davor, die Schwere der Intoxikation allein anhand der Konzentrationen in Blut oder Urin zu bestimmen. Alkoholintoxikationen bergen das besondere Risiko impulshafter, ungewollter Selbstmordversuche. Die Suizidhäufigkeit bei Suchtkranken liegt generell ca. 22-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Bei Alkoholabhängigen sogar um das 60- bis 120-Fache. Etwa 10–12 % der Alkoholiker sterben dadurch.

Jährlich bringen sich etwa 10 000 Menschen um

An zweiter Stelle im Notfallranking steht die Suizidalität, die in Deutschland für 25–30 % der akut psych­iatrischen Patienten verantwortlich zeichnet. Im Schnitt haben sich in den vergangenen zehn Jahren jährlich etwa 10 000 Menschen umgebracht – das sind drei Mal so viel Tote wie im Verkehr. Und man schätzt, dass die Zahl erfolgloser Versuche noch etwa 10–15 Mal höher liegt. Suizidalität geht überwiegend mit bipolaren Störungen, Missbrauch bzw. Abhängigkeit von Alkohol/Drogen, bestimmten Persönlichkeitsstörungen und Schizophrenien einher. Bis zu 70 % der Suizide gehen auf Depressionen zurück. Männer im höheren Lebensalter begehen am häufigsten Selbstmord. In den letzten Jahren gab es aber auch einen deutlichen Anstieg unter den 15- bis 35-Jährigen. Ein verstärktes Risiko besteht bei:
  • mindestens einem Suizidversuch in der Vorgeschichte (wichtigster Risikofaktor!)
  • psychischen Erkrankungen, chronischen Schmerzen und lang anhaltenden Schlafstörungen
  • alten Menschen
  • Vereinsamung und Isolierung
  • Kindern und Jugendlichen aus Broken-Home-Verhältnissen
  • Personen in medizinischen/helfenden Berufen
Die Suizidalität bereitet in der Versorgung offenbar größte Probleme. Internationalen Studien zufolge werden etwa 80 % der Menschen mit konkreten Selbstmordplänen in der Notaufnahme nicht als akut gefährdet erkannt. Auf Platz 3 der Notfallhitparade liegen Erregungszustände, die im deutschen Notarztdienst 15–25 % der Fälle ausmachen. Als klinische Zeichen nennen die Experten innere Gespanntheit/Unruhe, ängstlich-misstrauische Grundstimmung sowie eine Steigerung von Antrieb und Psychomotorik. Vier Phasen werden unterschieden (s. Kasten links). Gefahr für den Betroffenen selbst und andere droht oft durch unkontrollierte aggressive Ausbrüche.

Erregungsstörung: vom Misstrauen zur völligen Eskalation

  • 1. Phase: Gespanntheit/Prodromalphase Die Patienten sind gespannt und misstrauisch, vermeiden Blickkontakt und antworten kaum oder gar nicht mehr auf Fragen. Manche nehmen schon jetzt eine drohende Haltung ein.
  • 2. Phase: verbale Aggression Zur Unruhe kommen nun aggressive, laute Äußerungen, auf Ansprache erfolgt keine adäquate Reaktion mehr.
  • 3. Phase: motorische Aggression Die Patienten zerstören Gegenstände, bedrohen andere oder greifen sie an.
  • 4. Phase: Erregungssturm Die Gewalttätigkeit kann nun völlig eskalieren und die Patienten setzen ungeahnte, weit über das normale Maß hinausgehende körperliche Kräfte frei.
Erregungszustände können abrupt ohne Vorzeichen auftreten. Liegt eine organische Ursache zugrunde, gelten die Betroffenen spätestens ab Phase 3 als psychiatrischer Notfall. Wichtig: Das Ausmaß der Erregung korreliert nicht unbedingt mit einer potenziellen Fremdgefährdung!

Meist liegen gleichzeitig vegetative Symptome wie Schwitzen, erhöhter Blutdruck und Puls vor. Das Schmerzempfinden sinkt dagegen und man muss damit rechnen, dass die Patienten Bärenkräfte entwickeln. Impulskontrolle, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sind beeinträchtigt, was die Adhärenz deutlich mindert. Das Ursachenspektrum von Erregungszuständen reicht von praktisch jeder psychiatrischen Erkrankung über Intoxikationen bis hin zu somatischen Leiden: neurologischen (z.B. Tumoren, Enzephalitis, Epilepsien, Schädel-Hirn-Traumata), internistischen (z.B. Hyperthyreose, Blutzuckerentgleisungen, akutes Koronarsyndrom) sowie medikamentös bedingten (anticholin­erg wirksame Psychopharmaka, Kortikosteroide, Antibiotika oder Antihypertensiva). Neben diesen drei führenden Diagnosefeldern spielen Bewusstseinsstörungen im Notdienst eine wichtige Rolle. Man unterscheidet quantitative und qualitative. Quantitative bezeichnen Beeinträchtigungen der Vigilanz. Qualitative Formen beschreiben ein „verändertes“ Bewusstsein. Darunter fallen etwa Verwirrtheit oder Delir.

Angst deutet oft auf schwere organische Krankheit hin

Angstsyndrome sind ebenfalls ein häufiger Grund für Menschen, das Notfallsystem in Anspruch zu nehmen, auch wenn diese Zustände per se nicht das Leben bedrohen. Vielfach deuten sie aber auf schwere organische Erkrankungen hin, z.B. Herzinfarkte, Lungenembolien, Hyperthyreose oder Blutungen. Außerdem verursachen viele Intoxikationen, Entzüge von Psychopharmaka oder Medikamente Angst. Paranoid-halluzinatorische Syndrome können lange unter der Oberfläche schwelen, aber auch akut aufflackern, bspw. nach einer Überdosis. Ein Notfall wird daraus, wenn das Erlebte große Angst, Erregung, Unruhe oder Aggressivität auslöst. Lebensgefahr droht bei katatonen und stuporösen Syndromen, oft durch organische Erkrankungen oder Intoxikationen bedingt. Stuporöse Patienten bekommen alles mit, was um sie herum geschieht, sind aber außerstande, darauf zu reagieren. Klinisch fehlen jegliche körperliche Aktivitäten und mimische Bewegungen. Auf äußerliche Reize inklusive Schmerzreize gibt es keine Antwort. Im Inneren scheint es aber ganz anders auszusehen. Die extreme Anspannung der Patienten kann zu Tachykardien, hypertensiven Krisen und übermäßigem Schwitzen führen. Die Betroffenen stellen Essen und Trinken ein, dehydrieren somit und schaffen einfachste Dinge des Alltags nicht mehr.

Massive Muskelanspannung mündet im Nierenversagen

Charakteristisch für die Katatonie: das stunden- oder gar tagelange Verharren in einer bestimmten, teils völlig unnatürlichen Haltung. Die Patienten selbst merken das gar nicht („motorische Anosognosie“) und können währenddessen komplexe Tätigkeiten weiter durchführen. Notfallmedizinische Bedeutung hat die perniziöse Katatonie im Zuge katatoner Schizophrenien. Zu ihren Symptomen gehören Fieber, sympathikotone vegetative Entgleisung (Tachykardie, Hypertonie) sowie Elektrolytverschiebungen und Exsikkose. Eine massive Anspannung der Muskeln mündet oft im Verlust von quergestreifter Muskulatur mit der Gefahr der Myoglobinurie und konsekutivem Nierenversagen. Ohne Therapie verläuft die perniziöse Katatonie sehr oft tödlich. Differenzialdiagnostische Bedeutung hat das maligne neuroleptische Syndrom (MNS), das sich unter einer Therapie mit Neuroleptika entwickeln kann. Während die Therapie der Katatonie mit Antipsychotika erfolgt, verbieten sich diese beim MNS. 

Quelle: S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“, AWMF-Registernumnmer: 038-023, www.awmf.org

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