Dezentrales System der Praxen in Deutschland macht den Unterschied in der Pandemie
Welche mittel- und langfristigen Lehren lassen sich aus der ersten Phase der Coronakrise ziehen? Im Auftrag des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung, der Bertelsmann Stiftung und der Robert Bosch Stiftung haben vier Wissenschaftler ein „Richtungspapier“ erstellt und ihre Botschaften auf YouTube präsentiert.
Dass Deutschland vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen ist, führt Allgemeinmediziner Prof. Gerlach auf unser dezentrales ambulantes System zurück, in dem das Gros der positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Menschen von Hausärzten betreut wird. Nur 6 bis 7 % der positiv Getesteten müssten stationär behandelt werden. In der ersten Welle waren es maximal 13 %. Jedenfalls viel weniger als in anderen europäischen Ländern.
Telemonitoring und mobile Teams erproben
Nun seien aber Krankenhäuser „infektiologisch gefährliche Orte“. In Ländern mit einer krankenhauszentrierten Versorgung hätten sich viele Menschen gerade dort infiziert. Der Rettungsdienst habe das Virus dann von Krankenhaus zu Krankenhaus transportiert, erklärt der Vorsitzende des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen. So wurden z.B. in Frankreich im April mehr als 80 % der Testungen an Krankenhäusern durchgeführt – was die Infektionsgefährdung unnötig erhöhte.
Prof. Gerlach rät, den ambulanten Bereich in den Pandemieplänen besser abzubilden. Bezüglich der zuverlässigen Bereitstellung ausreichender, geeigneter Schutzkleidung und in puncto durchdachte Teststrategie mit einem Fokus auf der dezentralen, ambulanten Probenentnahme seien die Pandemiepläne bislang unzureichend gewesen.
Vielleicht könnten auch Menschen von mobilen Teams zu Hause getestet und Patienten telemedizinisch überwacht werden, um eine Krankenhausunterbringung erst einmal zu vermeiden. Das sollte in Studien kurzfristig überprüft werden. Videobehandlungen und telefonische Krankschreibungen sollten in geeigneten Fällen als Teil der Routineversorgung dauerhaft verstetigt werden.
Professor Dr. Reinhard Busse, der Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin lehrt, unterstreicht die Sinnhaftigkeit, die finanzielle Förderung auf jene 400 Krankenhäuser der Notfallstufen 2 und 3 zu konzentrieren, die personell und technisch in der Lage seien, eine adäquate Patientenversorgung zu gewährleisten. Während der ersten Pandemiewelle sei das Geld fürs Freihalten von Betten an alle Krankenhäuser ausgeschüttet worden. Dabei wurden fast alle stationären Fälle in nur 500 Einrichtungen betreut. Die meisten beatmeten Patienten befanden sich in 350 Kliniken.
Ganz grundsätzlich empfehlen die Autoren des Richtungspapiers, Mittel und Aufgaben zu konzentrieren. So sollten z.B. nur diejenigen Krankenhäuser die Behandlung von Schlaganfallpatienten abschlagsfrei vergütet bekommen, die eine Stroke Unit haben. Ebenso sollte nur denen die Herzinfarktversorgung bezahlt werden, die ein Herzkatheterlabor haben. „Etwa 20 % der Patienten landen derzeit in Krankenhäusern, wo sie nicht adäquat behandelt werden können“, sagt Prof. Busse. Dabei gehe doch „Qualität vor Nähe“.
Notfälle in geeignete Krankenhäuser fahren
Public-Health-Perspektive im Medizinstudium schärfen
Dass der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) eine bessere personelle und technische Ausstattung benötige, um Kontaktverfolgung, Anordnung und Kontrolle von Quarantäne sowie das Durchführen von Tests gewährleisten zu können, hat die Poltik erkannt. Um die präventive Versorgung zu stärken, müsse die Public-Health-Perspektive sowohl innerhalb des ÖGD als auch in den Lehrinhalten des Medizinstudiums geschärft werden. Der ÖGD benötige eine bessere Verknüpfung zu Wissenschaft und Primärversorgung.Medical-Tribune-Bericht