Extreme Neuverschuldung macht den Finanzminister nicht Bange
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Nimmt man die Kursentwicklung an der Börsen als Stimmungsanzeiger für die Erwartungen der Wirtschaft ist die Coronakrise schon abgehakt. Ob DAX, Dow Jones oder MSCI World – die Aktienindizes waren Anfang Dezember wieder auf dem Niveau vor der ersten Pandemiewelle oder bereits darüber hinaus. Der Deutsche Aktienindex DAX hat seit 1970 insgesamt 13 größere externe Schocks durchlebt, trotzdem ist er in den letzten 50 Jahren um über 2000 % gestiegen, berichtet Klaus Niedermeier, Leiter Investment Research der apoBank. Zuletzt gaben vor allem die Nachrichten über die Fortschritte bei der Impfstoffentwicklung den Börsen neuen Schub.
Dass es nach dem rasanten Einbruch der Aktienmärkte Mitte Februar und März zu einer raschen Erholung kam, lag an den sofortigen Hilfsmaßnahmen von Regierungen und Notenbanken. In unvorstellbarem Ausmaß wird von den Staaten zusätzliches Geld geschaffen, mit dem Wirtschaft und Beschäftigung gestützt werden. In diesem Jahr wird die globale Staatsverschuldung erstmals auf knapp 100 % der jährlichen weltweiten Wirtschaftsleistung (BIP) klettern, konstatierte der Internationale Währungsfonds im Oktober.
In Deutschland war der Schuldenstand 2019 unter die Marke von 60 % des BIP gesunken. Jetzt wird ein Anstieg auf etwa 72 % für 2021 erwartet, was weniger wäre als zu Zeiten der Finanzkrise (80 %). Die in den Jahren mit der „schwarzen Null“ getankte Kraft setzt die Regierung mit „Wumms“ und „Bazooka“ für Konjunktur- und Finanzhilfen ein, wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) dem Publikum erklärt. Er rechnet mit zusätzlichen Schulden im Bundeshaushalt für die Jahre 2020 und 2021 von insgesamt rund 300 Mrd. Euro. Das ist „sehr, sehr viel Geld“, aber „Nichthandeln wäre viel teurer als Handeln“, demonstriert der Vizekanzler Entschlossenheit.
Schuldenmachen fällt dem Staat heutzutage dank der Negativzinsen ja auch leichter als früher, bekommt er nun sogar noch Geld dazu. Doch folgt auf diese Krise ebenfalls wieder eine rasche Konsolidierung?
Griff nach den Reserven der GKV
Die Bundesregierung zwingt die Krankenkassen, „im Wahljahr 2021 einen Großteil ihrer Rücklagen zu verfeuern“, klagt Jens Martin Hoyer, Vorstandsvize des AOK-Bundesverbandes. Mit dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz sind 8 Mrd. Euro GKV-Reserven zum Lückenstopfen eingeplant. Dazu kommen 5 Mrd. Bundeszuschuss und 3 Mrd. von den Beitragszahlern. Das Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates, könnte sich aber durch ein Vermittlungsverfahren verzögern. Im Jahr der Bundestagswahl ist es Schwarz-Rot wichtig, die Sozialabgabenquote unter 40 % zu halten. Doch es sind nicht nur die Kosten der Coronakrise. „Die Spahn-Gesetze wirken über 2021 hinaus“, verweist Hoyer auf absehbare Mehrausgaben. Zudem rechnet er mit sinkenden Einnahmen, wenn die Grundlohnsumme bei anhaltender Pandemie unter Druck gerät und weitere Bundesmittel ausbleiben. 2022 könne es zu einem GKV-Fehlbetrag von über 17 Mrd. Euro sowie zu „drastischen Erhöhungen der Beiträge und unpopulären Spargesetzen“ kommen.
Das hängt wesentlich vom Wirtschaftswachstum der nächsten Jahre ab. In diesem Jahr geht das reale BIP hierzulande um 5,1 % zurück, hat der Sachverständigenrat für die wirtschaftliche Entwicklung ausgerechnet. 2021 könnte es ein Plus von 3,7 % geben und 2022 wieder das Vorkrisenniveau erreicht sein. Die Prognose basiert auf den im Oktober beschlossenen Einschränkungen.
Die vom „Lockdown light“ betroffenen Branchen, wie Gastronomie, Verkehr und Kultur, haben einen vergleichsweise geringen Anteil an der deutschen Bruttowertschöpfung. Hier gilt es, die zwangsgeschlossenen Betriebe über die Runden zu bringen. Die Bundesbank schätzt, dass die Zahl der beantragten Insolvenzen um ca. 35 % auf über 6000 im ersten Quartal 2021 steigen kann – was weniger wäre als in den frühen 2000er-Jahren (10 000 Insolvenzen pro Quartal).
Der Rettungsschirm für die Praxen hat sich geöffnet
Im März beschloss der Bundestag Umsatzgarantien für Vertragsarztpraxen, den sog. Schutzschirm. Die Regelung wird von den KVen gelobt; ihre Fortsetzung ist erwünscht. Zwei Beispiele:
Für das 2. Quartal, als die Fallzahlen 2020 ggü. 2019 um 14 % sanken, zahlte die KV Niedersachsen 61,5 Mio. Euro an 9865 Praxen, also pro Praxis 6200 Euro. Das meiste Geld floss zum Ausgleich der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (17,7 Mio. Euro an Fach-, 34,3 Mio. an Hausärzte). Einbußen bei extrabudgetären Einnahmen wurden mit 6,5 Mio. Euro (Fachärzte) bzw. 3 Mio. (Hausärzte) ausgeglichen.
In Bayern erhielten laut KV 15 bis 20 % der Praxen Schutzschirmgeld. Dabei ging es um 11 Mio. Euro (1/20) bzw. 47 Mio. Euro (2/20). Zum Vergleich: Die für den Schutzschirm relevante GKV-Honorarsumme beträgt in Bayern rund 1,6 Mrd. Euro pro Quartal.
Kurzarbeit im Gesundheitswesen im Frühjahr 2020 | ||||||
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Betriebe | Kurzarbeitende | |||||
März | April | Mai | März | April | Mai | |
Praxen für Allgemeinmedizin | 379 | 2384 | 2139 | 1303 | 8885 | 7464 |
Facharztpraxen | 2724 | 9951 | 7306 | 12 554 | 54 146 | 35 389 |
Zahnarztpraxen | 9151 | 24 005 | 19 147 | 40 888 | 116 397 | 83 252 |
Krankenhäuser | 190 | 741 | 774 | 4074 | 33 188 | 39 664 |
Quelle: Bundesagentur für Arbeit | ||||||
Angestellte in den Praxen von Vertragsärzten und -psychotherapeuten haben grundsätzlich Anspruch auf Kurzarbeitergeld, alle Anträge werden im Einzelfall beschieden. Das stellte die Bundesagentur für Arbeit im Mai klar, nachdem sie zuvor einen Anspruch mit Verweis auf Ausgleichszahlungen aus dem Schutzschirm verneint hatte. Die Statistik weist aus, dass im April und Mai jeweils um die 8000 Personen in über 2000 Hausarztpraxen in Kurzarbeit waren. Deutlich mehr Beschäftigte waren in Facharzt- und Zahnarztpraxen sowie Kliniken betroffen. Zu den ausgezahlten Summen gibt es keine Angaben. |
In einem Interview mit der Fuldaer Zeitung zeigte sich der frühere Präsident des Ifo-Instituts, Professor Dr. Hans-Werner Sinn, im November optimistisch für Deutschland: „Wir kommen mit einem blauen Auge aus der Krise raus.“ Das Risiko einer Inflation bestehe, müsse aber nicht eintreten. Allerdings: „Wir werden Mitte 2021, wenn die Pandemie hoffentlich endgültig abgeebbt ist, in der Eurozone sechs Mal so viel Zentralbankgeld im Umlauf haben wie kurz vor Beginn der Eurokrise 2008.“
Geht es nach der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Scholz, könnten höhere Steuern für Gutverdiener und Vermögende dem Staat künftig zusätzliche Einnahmen bringen. Ein höherer Spitzensteuersatz, die Wiederbelebung der Vermögensteuer und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer stehen zur Diskussion.
Medical-Tribune-Bericht