Was Wissenschaftler aus der ersten Pandemiewelle gelernt haben

Gesundheitspolitik Autor: Heike Dierbach

Das NIPH pflegt eine Live-Karte zur COVID-19-Evidenz und die WHO organisiert ein wöchentliches Forum. Das NIPH pflegt eine Live-Karte zur COVID-19-Evidenz und die WHO organisiert ein wöchentliches Forum. © j-mel – stock.adobe.com

Der Beginn der COVID-19-Pandemie war ein Albtraum für die evidenzbasierte Medizin: Es gab kaum Daten zum neuen Virus, doch die Wissenschaft sollte unter enormem Zeitdruck Empfehlungen geben, die Auswirkungen auf das Leben aller Bürger hatten. Zudem fehlte teilweise das Schutzmaterial. Auf dem digitalen World Health Summit trugen Experten nun ihre Erfahrungen zusammen – manchen sah man die Anstrengung der vergangenen Monate förmlich an.

Professor Dr. Yvonne Doyle, Medical Director und Director for Health Protection bei Public Health England, berichtete, dass sie und ihre Kollegen zu Beginn der Pandemie sehr genau beobachtet haben, welche Auswirkungen die Maßnahmen hatten. Immer mehr Aspekte flossen in die Bewertung ein, z.B. die Bedeutung der kostenlosen Schulessen für viele Kinder. Auch deshalb bleiben die Schulen in Großbritannien derzeit trotz Lockdown geöffnet.

Spaniens Gesundheitswesen war kurz vor dem Kollaps

In Spanien war die Lage im März besonders schwierig, berichtete Dr. Fernando Simón, Direktor des Koordinierungszentrums für Gesundheitsnotfälle im spanischen Gesundheitsministerium. Es sei noch nicht einmal klar gewesen, was gerade das Ziel war: Will man so viele Infektionen wie möglich vermeiden? Oder einen Kollaps der Gesundheitsversorgung verhindern? „Und wir waren kurz davor, dass dieser Kollaps eintritt.“ Hinzu kamen praktische Probleme. „Sollten wir eine Maßnahme empfehlen, die laut Datenlage viel bewirken würde, die aber gar nicht umgesetzt werden kann, weil das Material fehlt? Oder lieber eine, die zwar weniger bringt, aber dafür umsetzbar ist?“ In Spanien fehlte auch eine gesetzliche Grundlage, wie es sie in Deutschland durch das Infektionsschutzgesetz gab.

Norweger veröffentlichen Liste mit Studien zu COVID-19

In Norwegen ist die Entscheidungsfindung mittlerweile straff organisiert. In einer Konferenzschaltung alle zwei Tage erhält das nationale Public Health Institut Arbeitsaufträge von der Regierung, erläuterte der Direktor für Infektionskrankheiten und Global Health, Professor Dr. Frode Forland. Zur schnellen Einschätzung der Evidenz von Maßnahmen „haben wir im Institut spezielle interdisziplinäre Gremien“, betont Prof. Forland.

Die Norweger haben auch eine Tabelle erstellt, zu welchen Aspekten wie viele Studien vorliegen. 10 000 Studien wurden bisher erfasst. Die „Live-Karte zur COVID-19-Evidenz“ ist öffentlich auf Englisch zugänglich.

Interessant ist: Die meisten Studien gibt es bisher zu den bevölkerungsweiten Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen. Man solle aber auch sagen, wenn man etwas noch nicht weiß, empfiehlt Prof. Forland: „Der Satz ‚Ich weiß es nicht‘ fällt durchaus oft auf unseren Pressekonferenzen.“

Das unterstrich auch Dr. Soumya Swaminathan, Leiterin der Abteilung Wissenschaft bei der WHO. Manche beschwerten sich, weil sich die Empfehlungen der Wissenschaft änderten. „Dann muss man erklären, dass Veränderung gerade gut ist, weil wir eben immer neue Erkenntnisse gewinnen und diese berücksichtigen“, betont die Expertin. Sie rät den Ländern, stärker aus den Erfahrungen anderer zu lernen, den Erfolgen, aber auch den Fehlern. Die WHO hat dafür ein Forum organisiert, bei dem an jedem Donnerstag sechs Länder, oft hochrangig vertreten durch die Gesundheitsminister, ihre neuen Erkenntnisse zu COVID-19 vorstellen. Zudem gibt es eine Art digitales Schwarzes Brett, wo Lösungen für spezielle Fragen recherchiert werden können.

Auch Entwicklungsländer bewältigen die Krise gut, z.B. Vietnam. „Das Land hat sehr schnell reagiert und unter anderem alle Flüge aus Wuhan gestoppt. Ein umfassendes Screeningprogramm wurde aufgebaut“, so Dr. Swaminathan. China habe ebenfalls schnell dazugelernt. „Zu Beginn gab es dort viele Übertragungen von Infizierten an Haushaltsangehörige während der Quarantäne.“ Um das zu stoppen, wurden Patienten zunehmend außerhalb untergebracht. „Andere Länder folgen diesem Beispiel nun.“

Medical-Tribune-Bericht