Diabetes Smartes Screening auf Station
Ihr Projekt SmartDiabetesCare hat bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Was macht das Projekt aus?
Privatdozentin Dr. Susanne Reger-Tan: Bei SmartDiabetesCare handelt es sich um ein Konzept zum strukturierten Diabetesmanagement im Krankenhaus mithilfe digitaler Tools. Alles, was wir an digitalen Elementen aus der ambulanten Versorgung kennen, haben wir versucht, in die stationäre Versorgung der Menschen mit Diabetes zu transferieren. So hat jede*r Patient*in mit Diabetes einen Glukosesensor erhalten.
Wie schätzen Sie aktuell die Bedeutung der Diagnose Diabetes in den Krankenhäusern in Deutschland ein?
PD Dr. Reger-Tan: Wir schätzen, dass vier von zehn Patient*innen betroffen sind. Als Nebendiagnose wird Diabetes im Krankenhaus oft nicht erkannt und damit untertherapiert. Diabetes ist aber mit einem höheren Risiko für Komplikationen wie postoperative Wundinfektionen assoziiert. Patient*innen mit Diabetes bleiben durchschnittlich länger im Krankenhaus und haben ein höheres Risiko für einen ungünstigen Verlauf nach Entlassung.
Wie war der Weg von der Idee bis zur Umsetzung? In welcher Phase haben Sie die Krankenhaus-Verwaltung mit einbezogen und wie hat man dort reagiert?
PD Dr. Reger-Tan: Wir hatten die Situation, dass wir in unserer Hochschulambulanz jeden Tag die Patient*innen mit den modernsten Technologien versorgt haben und dann direkt daneben auf der Station diese Technologien nicht zur Verfügung standen. Die Universitätsmedizin Essen hat sich als „Smart Hospital“ aufgestellt. Da passte mein Konzept der digitalisierten Diabetesversorgung gut rein, sodass wir bei der Verwaltung offene Türen einrannten.
Bitte nennen Sie ein konkretes Beispiel für SmartDiabetesCare.
PD Dr. Reger-Tan: Eine ältere Dame kam mit schon bekanntem Diabetes unter oraler Diabetesmedikation ohne Insulin stationär zur hoch dosierten Steroidtherapie in die Dermatologie. Bei der stationären Aufnahme wurde es versäumt, anders als vorgesehen, sie in SmartDiabetesCare aufzunehmen. Stattdessen wurde der Blutzucker punktuell kapillär gemessen. Die Blutzuckerwerte eskalierten dann mittags bis 400 und abends bis 600 mg/dl unter der ersten Steroidgabe am Morgen. Wir haben im Verlauf des Tages die Patientin in das Projekt eingeschlossen.
Der strukturierte Einsatz digitaler Tools kann auch im Krankenhaus dazu beitragen, die Versorgung und Therapieergebnisse von Menschen mit Diabetes zu verbessern.
Das Diabetesteam hat die Diabetestherapie übernommen und das Glukosemonitoring auf eine kontinuierliche Messung via Sensor inklusive Datenteilung mit dem Pflegeteam umgestellt. Wir konnten so die Glukosewerte auf der dermatologischen Station zielgerichtet und zeitnah absenken. Unser Ziel ist es, den Krankheitsverlauf der Patient*innen während des stationären Aufenthaltes und darüber hinaus im poststationären Verlauf nachhaltig positiv zu beeinflussen. Das ganze Konzept muss zudem mit einer Arbeitsentlastung des medizinischen Personals verbunden sein, das in die Betreuung der Patient*innen involviert ist.
Wie haben andere Abteilungen das Projekt aufgenommen? Gab es auch skeptische Stimmen?
PD Dr. Reger-Tan: Im ganzen Prozess haben wir mit vielen Leuten gesprochen und eine große Anzahl an Schulungen durchgeführt, um das Projekt zu erläutern. Vereinzelte (tendenziell ältere) Personen hatten bei diesen Schulungen offen geäußert, dass sie vor der ganzen Technologie Respekt hätten, sodass wir auf sie dann besondere Rücksicht genommen haben und ihnen in der Anfangsphase gesondert zur Seite gestanden haben. Bei der Anwendung im klinischen Alltag haben die Vorzüge dann rasch überzeugt.
Wie hat sich die COVID-19-Pandemie ausgewirkt?
PD Dr. Reger-Tan: Initial hatten wir mit der Neurologie, Unfallchirurgie und Dermatologie geplant, und dann kam die COVID-19-Pandemie. Die Pflegenden der COVID-19-Stationen hatten darum gebeten, in das Projekt aufgenommen zu werden. Wir haben dann spontan erweitert, zumindest soweit es unsere Ressourcen zuließen. Im COVID-19-Bereich haben sich besonders die Vorzüge der Sensoren und Datenteilung gezeigt. Statt jedes Mal für eine Blutzuckermessung die Schutzkleidung an- und auszuziehen, haben die Patient*innen optimalerweise selbst gescannt und die Pflegekräfte die Werte außerhalb des Zimmers auf ihrem Tablet empfangen. Die Pflegenden wurden so auch immer alarmiert, wenn ein*e Patient*in unterzuckerte. Wir haben standardisierte Hypoglykämie-Bags im Patientenzimmer vorgehalten, um Hypoglykämien schnell behandeln zu können.
Durch das systematische Diabetes-Screening am Aufnahmetag haben wir übrigens bei jeweils 40 % der COVID-19-Patient*innen einen Diabetes bzw. einen Prädiabetes und nur bei 20 % eine normale Glukosestoffwechsellage festgestellt. Die aktive Projektphase war für uns alle sehr spannend, aber auch für unser sehr kleines Diabetesteam in dieser angespannten Phase der ersten COVID-19-Welle sehr herausfordernd. Nach Projektende waren wir über das Gelingen sehr glücklich, aber auch ganz schön erschöpft.
Das Projekt ist vorbei? Ist eine Wiederauflage geplant? Wurden Dinge in die Routine übernommen?
PD Dr. Reger-Tan: Das Projekt lief sechs Monate von November 2020 bis zum Auslaufen der ersten Coronawelle. Aktuell befinden wir uns in der spannenden Phase der Datenauswertung. Wir führen aber zeitgleich das SmartDiabetesCare-Konzept bei uns in der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel weiter. Alle Patient*innen werden am Aufnahmetag auf ihre Glukosestoffwechsellage gescreent. Patient*innen mit Diabetes erhalten eine kontinuierliche Glukosemessung und ein Smartphone für Datenempfang und Weiterleitung ans Bett. Das ist vor allem praktisch bei jenen, die einen Insulinperfusor und eigentlich stündliche kapilläre Blutzuckermessungen benötigen. Wir haben etwa einen Anteil von 50 % der Patient:innen, die hauptsächlich wegen Diabetes kommen. Die andere Hälfte der Patient*innen hat eine andere Diagnose, etwa eine Tumorerkrankung, da liegt oft ein Diabetes als eine Nebendiagnose vor. Diese Patient*innen werden ebenfalls nach dem SmartDiabetesCare-Konzept versorgt.
Wir planen strategisch, das Konzept des SmartDiabetesCare in der Universitätsklinik Essen schrittweise auszurollen. Diese umfasst noch weitere Kliniken, die lokal in anderen Stadtteilen Essens verortet sind. Denkbar wäre hier eine Unterstützung dieser Kliniken mithilfe des SmartDiabetesCare durch unsere Diabetes-Expertise im Sinne eines „Virtual Hospitals“.
Das Projekt wurde dieses Jahres beim bytes4diabetes-Award mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen der Preis persönlich?
PD Dr. Reger-Tan: Für das gesamte Team ist es eine super Anerkennung. Ich freue mich über diese Anerkennung für jedes einzelne Teammitglied, das so viel Energie und Engagement in das Projekt gesteckt hat. Zudem gerät durch den Preis die Relevanz des Diabetes im Krankenhaus allgemein mehr in unser aller Bewusstsein. Der Preis hilft uns auch sehr, SmartDiabetesCare als Leuchtturm-Projekt in die Öffentlichkeit zu tragen. Wir vernetzen uns gerade durch den Preis initiiert mit anderen digital interessierten Kliniken, gemeinsam können wir uns sicher besser weiterentwickeln.
Wie teuer ist SmartDiabetes im Krankenhaus eigentlich?
PD Dr. Reger-Tan: Wir benötigen smarte Devices als Investitionsgüter. Zusätzlich fällt die Sensorik als Verbrauchsmaterial an. Um das medizinische Personal auf den Stationen zu entlasten, benötigt man langfristig ein größeres Diabetesteam. Wissenschaftliches Know-how ist wünschenswert. Ich hoffe zudem, dass wir um weitere digitale Tools wie smarte Pens erweitern. Daher ist das mit dem Award verbundene Preisgeld auch sehr hilfreich für unsere Weiterentwicklung. Das SmartDiabetesCare-Konzept soll nicht nur Versorgungsqualität verbessern, sondern auch Kosteneffizienz steigern, daher ist dieses Konzept im optimalen Fall nicht teuer, sondern günstig.
Auf dem ATTD berichteten einige Referenten aus europäischen Nachbarländern vom umfangreichen Einsatz von CGM in Krankenhäusern. Wie sehen Sie die deutschen Krankenhäuser im Vergleich?
PD Dr. Reger-Tan: Ich sehe mir neben dem ATTD auch das „Virtual Hospital Diabetes Meeting“ an, da sprechen die Amerikaner viel über ihre digitalen Lösungen. Die sind uns i.d.R. immer etwas voraus, und hier ist es ebenso. Während der Coronapandemie hatte die amerikanische FDA die Nutzung von CGM im Krankenhaus erlaubt. Dexcom hat nun basierend auf dieser Erfahrung von der FDA eine „Breakthrough Designation“ für CGM im Krankenhaus erhalten. Und die Briten scheinen nun CGM pragmatisch in der Breite im Krankenhaus zu nutzen.
Wie wird in fünf Jahren die Diabetesbetreuung in den meisten Krankenhäusern aussehen?
PD Dr. Reger-Tan: Fünf Jahre sind aus Perspektive einer Krankenhausverwaltung sehr kurz. Aber ich wünsche mir, dass wir die Digitalisierung als Chance ergreifen, um die Diabetesversorgung im Krankenhaus auf ein neues Niveau zu heben. Inwiefern dies gelingen kann, wird sehr von den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen abhängen. Davon sollten wir uns aber nicht entmutigen lassen. Manchmal muss man einfach machen und zeigen, dass der klinische Nutzen im Versorgungsalltag überzeugen kann. Außerdem wünsche ich mir ein Bewusstsein für den großen Stellenwert der Diabetologie im Krankenhaus. Der Fortschritt in der Diabetologie wird hoffentlich unseren Beruf attraktiver für den Nachwuchs machen.
Auf digitaler Ebene wünsche ich mir mehr Interoperabilität und Software, die die Besonderheiten und Komplexität des Diabetesmanagements berücksichtigt und darstellen kann, eine Verbindung zu Smartwatches wäre super. Ich freue mich auch auf eine Weiterentwicklung der Devices, z.B. mit gleichzeitiger Messung von Glukose und Ketonen. Die nahe Zukunft der Diabetologie bzw. des Diabetesmanagements wird sicherlich sehr aufregend.
diabetes zeitung – Interview