Second-Victim-Phänomen „Würde der Patient noch leben, wenn ich ...?“

Niederlassung und Kooperation Autor: Isabel Aulehla

Die meisten Ärzte werden mindestens einmal zum Second Victim. Die meisten Ärzte werden mindestens einmal zum Second Victim. © Sondem – stock.adobe.com

Wenn Ärztinnen und Ärzte an einem tragischen Krankheitsverlauf oder einem Behandlungsfehler beteiligt waren, erkranken sie manchmal psychisch. In einer neuen Folge des Podcasts O-Ton Innere Medizin erklären zwei Experten, was das „Second-Victim-Phänomen“ ist und welche Hilfsangebote es gibt. 

Ein Patient wird nach einem Verkehrsunfall polytraumatisiert eingeliefert. Er stirbt noch im Schockraum, seine Angehörigen kommen in die Notaufnahme. Für die beteiligte Ärztin ist es eine aufwühlende Situation. Noch Tage später kommen in ihr immer wieder Bilder, Eindrücke und Emotionen hoch. Außerdem quält sie die Frage, ob sie fachlich alles richtig gemacht hat. 

Der Fall ist ein klassisches Beispiel für das Second-Victim-Phänomen, erklärt Prof. Dr. Reinhard Strametz in einer neuen Folge des Podcasts O-Ton Innere Medizin. Er ist Anästhesist, Ökonom und Experte für Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain. Die Mehrheit aller Ärztinnen und Ärzte, die bereits klinisch tätig waren, hat das Phänomen wahrscheinlich schon erlebt, meint er. Doch die wenigsten wüssten, was es überhaupt ist.

Es ist egal, ob beinahe oder tatsächlich etwas geschah

Unter einem Second Victim versteht man eine Person im Gesundheitswesen, die an einem unerwarteten, unerwünschten Patientenereignis, einem Fehler oder einer Patientenschädigung beteiligt war und davon ebenfalls negativ beeinträchtigt ist. Die Belastung kann so groß sein, dass psychische Hilfe erforderlich ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob tatsächlich ein Schaden entstand oder ob das nur beinahe der Fall gewesen wäre.

Die typischen Symptome: Flashbacks, Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten und ein ständiges Hinterfragen der eigenen Handlungen. Da Selbstzweifel anfällig für Fehler machen, führen sie tendenziell zu weiteren Behandlungsfehlern, gibt der Experte zu bedenken. Manche der Betroffenen neigten auch dazu, defensive Medizin zu betreiben. Die Folge eines Second-Victim-Ereignisses können bis hin zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung reichen. Auch Fälle von Suizid seien dokumentiert.

Doch Prof. Strametz sieht das Phänomen nicht unbedingt als Krankheit: „Dass man sich Sorgen macht, dass man sich psychisch belastet – das ist zunächst einmal eine menschliche Reaktion.“ Entscheidend sei, dass die Betroffenen gestärkt aus der Situation herauskommen und wieder sicher behandeln können. Die Heilungschancen seien gut, betont er.

Als Goldstandard zur Bewältigung habe sich der Peer Support bewährt, also die Unterstützung durch Kolleginnen und Kollegen. Diese kennen die Rahmenbedingungen in Kliniken und Praxen selbst, gibt der Experte zu bedenken. Vor ihnen falle es außerdem weniger schwer, sich zu offenbaren, als vor einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin. 

Kolleginnen und Kollegen verstehen die Situation gut

Eine Stelle, die schnell niedrigschwellige Hilfe nach belastenden Ereignissen anbietet, ist die telefonische Helpline des Vereins PSU akut e.V. in München (s. unten). Dort arbeiten Personen, die den Medizinbetrieb aus eigener Tätigkeit kennen und im Peer Support geschult sind. Im Gespräch können die Anrufenden detailliert erzählen, was passiert ist und wie es ihnen geht, erklärt Andreas Igl. Er ist Geschäftsführer des Vereins, Pädagoge und Traumaexperte. 

Auch die Ärztin aus dem eingangs geschilderten Beispiel meldete sich über die Rufnummer. Igl hörte ihr aufmerksam zu, arbeitete mit ihr heraus, welche verschiedenen Aspekte sie belasten, und besprach mit ihr, wie sie mit den Traumareaktionen umgehen kann. Damit die Ärztin auch über ihre fachlichen Zweifel sprechen konnte, vermittelte er über den Verein zusätzlich eine ärztliche Kollegin. Dank der Hilfe kam die Anruferin wieder in einen handlungsfähigen Zustand.

Merken die Mitarbeitenden der Helpline, dass eine strukturiertere Intervention erforderlich ist, kann der Verein innerhalb von 48 Stunden ein Gespräch mit einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten vermitteln. 

Der Verein möchte das Angebot bekannter machen. Derzeit gehen ca. 50 Anrufe pro Monat bei der Helpline ein. Verglichen mit der hohen Prävalenz des Second-Victim-Phänomens ist das allerdings noch relativ wenig. Wie verbreitet das Phänomen unter Ärztinnen und Ärzten ist und was man tun kann, um es zu bewältigen, hören Sie im Podcast O-Ton Innere Medizin

Medical-Tribune-Bericht 

Die Helpline von PSU akut e.V.

(täglich von 9 bis 21 Uhr): 
0800 0 911 912

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