Substitutionspolitik Tägliche Vergabe aktuell lukrativer als neue Take-Home-Verordnung

Verordnungen Autor: Anouschka Wasner

Künftig wird dann ein Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme (Take-Home) bis zu sieben Tage verschrieben werden können. Künftig wird dann ein Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme (Take-Home) bis zu sieben Tage verschrieben werden können. © zadorozhna – stock.adobe.com

Mit einer Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung will die Bundesregierung mehr Flexibilität in der Substitutionsbehandlung ermöglichen. Doch die bestehende Vergütungslogik steht dem entgegen, sagen Experten. 

Dank der SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung konnten Patienten auch während der Pandemie mit notwendigen Arzneimitteln und Medizinprodukten versorgt werden. In der Drogentherapie werden solche Ausnahmen nun zur Regel: Das Bundeskabinett hat Ende Dezember 2022 eine Verordnung zur Änderung der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) beschlossen. Wenn der Bundesrat ihr zustimmt, was als sicher gilt, kann sie am 8. April 2023 in Kraft treten und die bereits bis zum 7. April verlängerten Ausnahmebestimmungen ablösen.

Substitutionsmittel direkt für eine ganze Woche

Künftig wird dann ein Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme (Take-Home) bis zu sieben Tage verschrieben werden können. Vor der Pandemie war dies für maximal zwei Tage oder über ein Wochenende bzw. über Feiertage einschließlich Brückentagen für maximal fünf Tage möglich. Mit der neuen Regelung entfällt außerdem die Höchstverschreibungsmengenregelung und somit auch die Pflichtangabe „A“ auf BtM-Rezepten – und damit eine Menge bürokratischer Aufwand für Praxen und Apotheken.  

Bislang dürfen Arzt und Ärztin die Take-Home-Verschreibung nur im Rahmen einer persönlichen Konsultation aushändigen. Künftig sollen Rezepte auch nach telemedizinischen Beratungen ausgestellt werden können, also auch per Post. Dabei muss allerdings in einem Zeitraum von 30 Tagen mindestens eine persönliche Konsultation stattfinden. In diesem Fall ist die Verschreibung nach dem Buchstaben „S“ zusätzlich mit einem „T“ zu kennzeichnen. 

Nach der BtMVV von 1998 war die Einnahme des Ersatzmittels in der Arztpraxis „unter Sicht“ das vorgeschriebene Therapieschema und nur in wenigen Fällen eine Ausnahme davon möglich. Unterstützung, Behandlung und Beratung müssten schneller und direkter bei den Menschen ankommen, hatte der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert, bei der Vorstellung des aktuellen Drogenberichts im Mai 2022 gefordert.

Die tägliche Einnahme des Substituts unter Aufsicht sei bei langjährig stabilen Patienten auch gar nicht mehr erforderlich, so Prof. Dr. Heino Stöver, sozialwissenschaftlicher Suchtforscher an der Frankfurt University of Applied Sciences und Vorstand des akzept Bundesverbands für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik. Vermehrte Take-Home-Verordnungen und telemedizinische Betreuung statt täglicher Vergabe, zudem die Verabreichung eines Depots mit wöchentlicher oder monatlicher Frequenz, könnten die Versorgung in der Fläche verbessern, die soziale Integration und berufliche Wiedereingliederung erleichtern.

Noch ungeklärt ist, inwieweit die neuen Behandlungsschemata künftig im EBM Berücksichtigung finden. Für die tägliche Vergabe erhält der Arzt außerbudgetär pro Quartal 704 Euro. Davon entfallen 635 Euro auf die bloße Verabreichung des Mittels und nur 69 Euro auf vier therapeutische Gespräche pro Quartal von jeweils mindestens zehnminütiger Dauer. Diese vom IGES Institut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen im Rahmen einer Studie vorgenommene Berechnung fußt auf dem Schätzwert, dass bei der „täglichen Vergabe“ ein Patient an 80 % der Tage in der Praxis erscheint. Bei einer Umstellung auf Take-Home oder der Verabreichung eines Depots sinkt die Vergütung um bis zu mehr als die Hälfte. 

Dass die tägliche Vergabe lukrativer ist als eine aus therapeutischer Sicht indizierte Take-Home-Verordnung, setzt nach Ansicht von Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhard aber „falsche Anreize“. Auch Dirk Schäffer, Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen Aidshilfe, kritisiert, dass Ärzte mit der aktuellen Regelung finanziell bestraft würden, wenn sie Patienten in die Eigenverantwortung entließen – obwohl dies doch das eigentliche Ziel der Behandlung sei. 

Mangel an ärztlicher Versorgung wächst

Die Zahl der substituierenden Ärzte ist laut Statistik der Bundesopiumstelle seit 2012 kontinuierlich auf 2.400 Ende 2021 gesunken; davon geht ein Drittel in den nächsten fünf Jahren in Pension. Gleichzeitig stieg die Zahl der Drogentoten auf zuletzt 1.826 im Jahr 2021. 

Und nur etwa die Hälfte der geschätzt 161.000 Opioidabhängigen in Deutschland ist ärztlich versorgt, während es gleichzeitig in vielen ländlichen Bereichen gar keine Behandlungsangebote mehr gibt. Würden die grundsätzlich positiven Erfahrungen mit der Arzneimittelversorgung während der Pandemie nun dauerhaft umgesetzt, könnten sie eine moderne, flexiblere und patientenorientiertere Substitutionstherapie begründen, so der Drogenbeauftragte zu der neuen Regelung. 

Medical-Tribune-Bericht