Arzt warnt davor, Fettsucht als Krankheit anzuerkennen
Für die WHO sei die Sache schon lange klar, schreiben Professor Dr. John P. H. Wilding und Vicki Mooney: Bereits 1936 habe die Weltgesundheitsorganisation die Fettsucht als Krankheit eingestuft. Durchgesetzt habe sich diese Ansicht aber nicht, beklagen der Leiter der Abteilung für Adipositas und endokrinologische Forschung der Universität Liverpool und die Generalsekretärin des Patient Councils der European Association for the Study of Obesity.
Für die beiden ist die zögerliche Haltung vieler Kollegen nicht nachvollziehbar. Bei der Entstehung der Fettleibigkeit spielten schließlich sowohl Gene als auch Umwelt eine maßgebliche Rolle, rufen die Autoren in Erinnerung. Körperfett im Übermaß verursache deutliche Symptome, führe anerkanntermaßen zu Komplikationen und das massive Übergewicht sei nicht die Folge einer physischen Verletzung. Damit erfülle der adipöse Zustand klar die Krankheitsdefinition des Oxford Dictionary.
Gesehen werde die Adipositas aber noch immer als eine Angelegenheit, für die die Betroffenen in erster Linie selbst verantwortlich seien. Ob das Problem mit der überbordenden Körpermasse fortbesteht oder verschwindet – das hänge allein von der Selbstdisziplin der übergewichtigen Menschen ab, so auch die Ansicht vieler Ärzte. Die Anerkennung der Fettleibigkeit als Krankheit würde mit diesem Irrglauben endlich aufräumen, sind Prof. Wilding und Vicky Mooney überzeugt. Und den Patienten dürften dann – neben der gegenwärtigen Stigmatisierung und Diskriminierung – künftig auch sinnlose Therapieversuche erspart bleiben.
Dr. Richard Pile ist anderer Meinung. Der Allgemeinmediziner im britischen St. Albans warnt davor, die Adipositas als Krankheit anzuerkennen. Ihm fällt es schwer zu glauben, dass Fettleibige durch die Einstufung als Kranke tatsächlich aktiver und gesünder würden. „Das nimmt diesen Menschen die Motivation, etwas an ihrer Situation zu ändern“, befürchtet der Kollege.
Schließlich begünstige eine solche Neubewertung der Fettleibigkeit die fatalistische Einstellung, sich als Opfer der eigenen Gene zu verstehen. „Das ist psychologisch ein wichtiger Unterschied: Ob ich selber einen Risikofaktor positiv beeinflussen kann oder ob ich mich als Kranken sehe, für dessen Behandlung jemand anderes zuständig ist.“ In erster Linie nutze es den Pharmaunternehmen und der Gesundheitsindustrie, die Adipositas vom Risikofaktor zum eigenständigen Krankheitsbild zu erheben, meint Dr. Pile. Dem adipösen Patienten jedenfalls helfe es nicht.
Quelle: Wilding JPH et al. BMJ 2019; 366: l4258; doi: doi.org/10.1136/bmj.l4258