Viele Pillen verderben den Brei Bei Polypharmazie im Alter ist Ausmisten angesagt
Nach gebräuchlicher Definition beschreibt der Begriff Polypharmazie die gleichzeitige Einnahme von fünf oder mehr rezeptpflichtigen Medikamenten. Insbesondere bei älteren Menschen kommt diese Situation häufig vor. In der Altersgruppe 70 plus bekommt jeder Vierte mindestens fünf Arzneimittel verordnet, schreiben Dr. Johannes Trabert und PD Dr. Rupert Püllen vom Agaplesion Markus Krankenhaus in Frankfurt. Die Multimedikation ist mit Stürzen, schnellerem kognitivem Abbau, funktioneller Verschlechterung und Harninkontinenz verknüpft.
Nicht nur die bloße Anzahl der Medikamente, auch die verordneten Substanzen und deren Applikationsform müssen genau betrachtet werden. Insbesondere die sogenannten potenziell inadäquaten Medikamente (PIM) bedürfen einer kritischen Überprüfung. Unter diesem Begriff versteht man eine Medikation, die aufgrund ihres Interaktionspotenzials oder Nebenwirkungsprofils für ältere Menschen als tendenziell ungeeignet gilt. PIM sind in Listen wie FORTA oder PRISCUS zusammengefasst.
Dort finden sich auch Vorschläge für eventuell besser verträgliche Alternativen. Seniorinnen und Senioren unter PIM landen häufiger im Krankenhaus. Sie haben ein erhöhtes Demenzrisiko und eine höhere Mortalität.
Vorerkrankte vertragen Polypharmazie schlechter
Gebrechliche und weniger selbstständig lebende Menschen bekommen häufig eine Vielzahl an Medikamenten verordnet, oft auch PIM. Das ist insofern bedenklich, weil bei körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung Polypharmazie deutlich schlechter vertragen wird als bei guter Konstitution. Oft bestehen zudem Schwierigkeiten, die Arzneimittel korrekt einzunehmen. Gründe können ein eingeschränktes Sehvermögen sein, Probleme beim Schlucken oder mangelnde Feinmotorik. Betroffene benötigen unbedingt Unterstützung bei der Einnahme ihrer Medikamente, erinnern Dr. Trabert und Dr. Püllen.
Insgesamt raten die Experten, dass Ärztinnen und Ärzte regelmäßig über eine Reduzierung der Pillen- und Tablettenlast nachdenken. Beim Deprescribing kommt es neben der gründlichen Nutzen-Risiko-Abwägung der bestehenden Medikation auch auf Faktoren wie Lebenssituation, Wünsche der Patientin oder des Patienten sowie deren/dessen Lebenserwartung an.
Tablettenab- und -umbau
- Orale Medikamente (z. B. Antikoagulanzien) kann man so verordnen, dass sie nur einmal täglich eingenommen werden müssen. Wenn möglich, wählt man Retardpräparate.
- Nach Möglichkeit auf transdermale Applikationsformen zurückgreifen, etwa bei Opiaten, Cholinesterasehemmern oder Dopaminagonisten.
- Bei der Osteoporosetherapie kann man z. B. Zoledronsäure bevorzugen, die nur einmal jährlich infundiert wird.
Die Autoren empfehlen, die Neuevaluierung der Medikamente immer dann in Betracht zu ziehen, wenn sich die Situation grundlegend ändert. Das kann z. B. die Diagnose einer Demenz oder eines lebenszeitverkürzenden Malignoms sein oder der Umzug in ein Pflegeheim. Auch nach einem Sturz sollte man die Medikation überprüfen.
Empfohlen wird folgender Ablauf: Man sollte sich zunächst einen Überblick über sämtliche Diagnosen und Medikamente der Patientin oder des Patienten verschaffen. Sind womöglich Substanzen dabei, die eigentlich nur zeitlich begrenzt genommen werden sollten? Vielleicht ein PPI zur Stressulkusprophylaxe oder Sedativa bzw. Neuroleptika zur Behandlung von Schlafstörungen oder eines Delirs bei einem Klinikaufenthalt? Ist die Indikation nicht mehr gegeben, kann auch die Medikation beendet werden. Falls mehrere Arzneimittel abgesetzt werden, sollte das möglichst nach und nach und nicht auf einen Schlag erfolgen.
Notwendigkeit der Einnahme einer Substanz besprechen
Identifiziert man beim Check eine Substanz mit relevanten Nebenwirkungen, bespricht man mit der Patientin bzw. dem Patienten, ob sie abgesetzt, in der Dosis reduziert oder unverändert weitergenommen werden soll. Deprescribing ist – sofern es sorgfältig erfolgt – sicher und kann die Zufriedenheit und den subjektiven Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten verbessern, betonen die beiden Autoren.
Quelle: Trabert J, Püllen J. Hessisches Ärzteblatt 2024; 85: 412-414