Dauertrauer ist nicht normal
Wenn sich im Alter die Todesfälle im Umfeld häufen und der Verlust von Kontakten verschmerzt werden muss, ist das sicher für jeden Menschen eine Herausforderung. Auch der finanzielle Ruin oder eine ernste Erkrankung stellen einen signifikanten Verlust dar, der betrauert werden muss. Ein über Monate oder gar Jahre anhaltendes Traurigsein im Alter darf laut Dr. Uwe Sperling vom Geriatrischen Zentrum der Universitätsmedizin Mannheim trotzdem nicht als normal angesehen werden.
Der DSM-5 definiert neben depressiven Störungen eine davon abzugrenzende anhaltende komplexe Trauerstörung als eigene Entität. Im Unterschied zur Depression steht nicht die Unfähigkeit, Freude und Glück zu empfinden, im Vordergrund, sondern ein Erleben von Leere und Verlust. Die Missstimmung nimmt ab, kommt aber in Wellen immer wieder, verbunden mit Gedanken oder Erinnerungen an den Verstorbenen.
Es gibt im Gegensatz zur Depression aber auch positive Emotionen und Humor. Die Selbstachtung bleibt bestehen. Die Erinnerungen an den Verstorbenen beherrschen die Gedanken – nicht selbstkritisches oder pessimistisches Grübeln wie in der Depression. Gedanken an Sterben und Tod beziehen sich nicht auf das eigene Lebensende, sondern auf den Tod des Verstorbenen.
Eine andauernde Trauerstörung muss angenommen werden, wenn eine Reihe von klinisch signifikanten Symptomen über mehr als zwölf Monate nach dem Tod des Angehörigen hinweg anhält (bei Kindern sechs Monate). Im Praxisalltag sollte der Traurigkeit nach dem Verlust eines Menschen von Anfang an Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zeit geben, Beraten, zum Beispiel hinsichtlich sozialer Unterstützung, und Begleiten, nannte Dr. Sperling als Maßnahmen in der ersten Zeit. Er betonte, eine frühe Trauerberatung sei meist kontraproduktiv, eine Pharmakotherapie nicht geeignet.
Symptome einer anhaltenden komplexen Trauerstörung nach DSM-5
- anhaltendes Weinen/Verlangen nach dem Verstorbenen
- intensive Trauer und emotionaler Schmerz in Antwort auf den Tod
- beherrschende Beschäftigung mit dem Verstorbenen
- beherrschende Beschäftigung mit den Todesumständen
- große Schwierigkeiten, den Tod zu akzeptieren
- Ungläubigkeit oder emotionale Taubheit gegenüber dem Verlust
- Schwierigkeiten mit positiver Erinnerung an den Verstorbenen
- Bitterkeit oder Wut in Bezug auf den Verlust
- unangepasste Selbsteinschätzungen in Bezug auf den Verstorbenen und den Tod (z.B. Selbstbeschuldigung)
- exzessives Vermeiden von Erinnerungen an den Verlust
- Todeswunsch, um bei dem Verstorbenen sein zu können
- seit dem Todesfall Schwierigkeit, anderen zu vertrauen
- sich seit dem Tod alleine oder von anderen getrennt fühlen
- Gefühl, dass das Leben ohne den Verstorbenen bedeutungslos und leer ist, oder dass man ohne ich nicht funktionieren kann
- Irritation über die eigenen Rolle, vermindertes Identitätsgefühl
- seit dem Todesfall Schwierigkeiten oder Widerwille, eigene Interessen zu verfolgen oder für die Zukunft zu planen
Komorbide Depression auf dem Schirm haben
Eine Norm fürs Trauern gibt es nicht, so der Kollege: „Die Trauerreaktion kann alles umfassen, alles ist normal, wenn es sich nicht verfestigt und den Menschen so einschränkt, dass er nicht mehr am täglichen Leben teilnehmen kann“, betonte er. Sollte das eintreten, ist eine entsprechende Reaktion gefragt. Es gibt bereits spezifische ambulante und stationäre Psychotherapieansätze für die anhaltende Trauerstörung. Zur Erfassung dieser Störung eignen sich das klinische Interview „Prolonged-Grief“ (PG-13) und das „Inventory of Complicated Grief“ (ICG) in der deutschen Version. Wichtig ist dabei auch, das Funktionsniveau vor dem Trauerfall zu erheben, z.B. eine vorbestehende Depression zu erfragen. Schließlich ist eine komorbide Depression auch im Trauerfall nicht ausgeschlossen.Quelle: 124. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin