Krank vor Kummer Wie man eine anhaltende Trauerstörung diagnostiziert und behandelt
Etwa 3–10 % aller Hinterbliebenen, die einen nahestehenden Menschen aufgrund einer natürlichen Todesursache verloren haben, leiden unter einer anhaltenden Trauerstörung. Noch höher liegt der Anteil der Betroffenen im Falle eines unerwarteten Todesfalls, zum Beispiel im Rahmen eines Suizids, Mordes, Unfalls oder einer Naturkatastrophe, schreiben Dr. Naomi Simon, New York University Grossman School of Medicine, und Dr. Katherine Shear, Columbia School of Social Work, New York.
Gemäß ICD-11* liegt eine anhaltende Trauerstörung (Code 6B42)vor, wenn
- Symptome eines emotionalen Schmerzes vorhanden sind (z. B. Traurigkeit, Schuldgefühle, Wut, Verleugnung),
- diese Symptome über mindestens sechs Monate bestehen bleiben und
- klinisch bedeutsame Probleme (Leid oder eine Funktionsbeeinträchtigung) verursachen, welche die im kulturellen, religiösen und sozialen Kontext zu erwartende Trauer übersteigen.
Bei Verdacht auf eine anhaltende Trauerstörung gibt eine ausführliche Anamnese meist weiteren Aufschluss.
Ausmaß und Dauer mit Fragebogen erfassen
Hierbei sollten unter anderem Veränderungen von Schlaf, Ernährung, körperlicher Aktivität sowie des sozialen und beruflichen Lebens seit dem Todesfall abgefragt werden. Zudem gilt es, das Ausmaß und die Dauer der Trauer zu ermitteln. Hilfreich dafür sind Fragebogen wie der Erhebungsbogen für anhaltende Trauer (Prolonged-grief-13) oder andere Rating-Skalen.
Eine wichtige Rolle bei der klinischen Beurteilung und der Diagnose spielen aktuelle sowie vorangegangene psychiatrische Störungen und körperliche Erkrankungen. Sie treten häufig parallel zu einer Trauerstörung auf und können die Symptome beeinflussen. Insbesondere sollten Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörungen, Alkohol- und Substanzkonsum sowie Suizidalität berücksichtigt werden.
Die Behandlung zielt darauf ab, dass die Betroffenen den Verlust akzeptieren. Sie sollen ihre Fähigkeit zurückerlangen, ein erfülltes Leben ohne die verstorbene Person zu führen. Psychotherapeutische Ansätze sind dafür besonders geeignet, betonen die Autorinnen.
Die stärkste Evidenz gibt es für eine langfristige Trauertherapie über 16 wöchentliche Sitzungen. Deren Schwerpunkte liegen beim empathischen Zuhören, der motivierenden Gesprächsführung und einer interaktiven Psychoedukation. Die Intervention umfasst Verfahren zur Stärkung von sozialen Beziehungen, zur Arbeit mit persönlichen Werten und Zielen sowie zur Förderung des Gefühls der Verbundenheit mit der verstorbenen Person.
Erfolg versprechend ist darüber hinaus auch eine auf die Trauer ausgelegte kognitive Verhaltenstherapie, die ähnliche Ansätze wie die langfristige Trauertherapie verfolgt. Dabei werden Techniken wie kognitive Umstrukturierung, Verhaltensaktivierung und Expositionstherapie angewandt.
Telemedizin erleichtert den Zugang zur Psychotherapie
Wer selbst keine evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlung anbietet, sollte eine Überweisung erwägen. Telemedizin und Online-Therapien sind wirksame Möglichkeiten, um den Zugang zu entsprechenden Angeboten zu erleichtern. Flankierend können einfache Interventionen im Rahmen von wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Terminen anberaumt werden. Die ärztliche Begleitung sollte dabei so lange wie nötig erfolgen, in der Regel über drei bis sechs Monate. Als hilfreich hat sich das Führen eines Tagebuches über das tägliche Level der Trauer sowie zu den Einflussfaktoren erwiesen.
Sprechen Betroffene nicht auf eine evidenzbasierte Psychotherapie an, ist eine erneute klinische Untersuchung angezeigt, bei der gezielt nach anderen möglichen Ursachen für die Symptome zu fahnden ist. Obwohl sich Antidepressiva bei anhaltender Trauerstörung als nicht wirksam erwiesen haben, kann eine antidepressive medikamentöse Therapie gleichzeitig auftretende depressive Symptome lindern. Außerdem empfehlen die Autorinnen, die Patientinnen und Patienten zu gesunden Schlaf- und Essgewohnheiten sowie regelmäßiger körperlicher Aktivität und dem Erreichen bzw. Einhalten eines gesunden Körpergewichts zu motivieren.
* International Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version
Quelle: Simon NM, Shear MK. N Engl J Med 2024; 391: 1227-1236; doi: 10.1056/NEJMcp2308707